sagte Ruth.
»Dort drüben liegen sie.« Er deutete auf einen Stapel weißer Bücher auf dem Tisch mit den Remittenden. Ruth schnaubte, dann wurde sie still, als ihr klar wurde, dass es vielleicht nur eine Frage von Tagen war, bis sich ihre kleine Sammlung von sorgsam komponierten Gedichten zu CCs Müll in den Büchersarg gesellte.
Einige Leute standen herum, unter anderem die drei Grazien von Three Pines: Emilie Longpré, eine zierliche, elegante Erscheinung in einem schmal geschnittenen Rock, Bluse und Seidenschal; Kaye Thompson, mit ihren über neunzig die Älteste der drei Freundinnen und verhutzelt und verschrumpelt wie eine Kartoffel, die nach Wick VapoRub roch; und Beatrice Mayer, mit einem wilden roten Schopf, der weiche, plumpe Körper unter einem voluminösen bernsteinfarbenen Kaftan und klobigen Ketten um den Hals nicht unbedingt vorteilhaft verborgen. Mother Bea, wie man sie nannte, hielt ein Exemplar von CCs Buch in der Hand. Sie drehte sich um und sah in Claras Richtung, nur einen Moment lang. Aber der reichte.
Mother Bea wirkte völlig fassungslos, ohne dass Clara ihre Miene richtig deuten konnte. War es Ärger? Angst? Auf jeden Fall hatte sie etwas sehr verstört, dachte Clara. Dann verschwand der Ausdruck, und an seine Stelle trat wieder die vertraute friedliche und heitere Miene in Mothers rosigem und faltigem Gesicht.
»Kommt, wir gehen rüber«, Ruth stand unbeholfen auf und nahm dankbar Gabris Arm. »Hier passiert sowieso nicht viel. Wenn später die nach großer Lyrik gierigen Horden einfallen, komme ich schnell zu meinem Tisch zurück.«
»Bonjour, meine Liebe.« Die zierliche Emilie Longpré küsste Clara auf beide Wangen. Selbst im Winter, wenn die meisten Québecer unter den vielen Woll- und Steppschichten wie Karikaturen ihrer selbst aussahen, wirkte Em elegant und grazil. Ihre Haare waren von einem geschmackvollen Hellbraun und gut frisiert. Kleidung und Make-up waren zurückhaltend und entsprachen dem Anlass. Mit ihren zweiundachtzig Jahren war sie eine der Matriarchinnen des Dorfs.
»Hast du das gesehen?« Olivier reichte Clara ein Buch. CC starrte sie an, grausam und kalt.
Be Calm – Ruhe finden.
Clara blickte zu Mother. Jetzt war ihr klar, warum sich Mother so aufregte.
»Hör dir das an.« Gabri begann den Klappentext vorzulesen. »Ms de Poitiers hat offiziell erklärt, dass Feng-Shui der Vergangenheit angehört.«
»Selbstverständlich, es ist eine alte chinesische Lehre«, sagte Kaye.
»An seiner statt«, fuhr Gabri fort, »schenkt uns diese neue Doyenne des Designs eine wesentlich komplexere, wesentlich tiefer gehende Philosophie, die nicht nur unser Zuhause bereichern und sein Erscheinungsbild prägen wird, sondern auch unsere Seele, jede Sekunde unseres Lebens, jede unserer Entscheidungen, jeden unserer Atemzüge. Der Weg ist bereitet für Li Bien, den Weg des Lichts.«
»Was ist Li Bien?«, fragte Olivier in die Runde. Clara glaubte zu sehen, wie Mother ihren Mund öffnete und dann wieder schloss.
»Mother?«, fragte sie.
»Ich? Nein, meine Liebe, ich habe keine Ahnung. Warum fragst du?«
»Ich dachte, du bist vielleicht mit Li Bien vertraut, weil du doch ein Yoga- und Meditationszentrum leitest«, sagte Clara vorsichtig.
»Ich bin mit sämtlichen spirituellen Wegen vertraut«, sagte sie, was eine gelinde Übertreibung war, wie Clara fand. »Aber mit diesem nicht.« Deutlicher brauchte sie nicht zu werden.
»Es ist dennoch ein merkwürdiger Zufall«, sagte Gabri, »findest du nicht?«
»Was denn?«, fragte Mother mit heiterer Stimme und Miene, aber mit bis zu den Ohren hochgezogenen Schultern.
»Na ja, dass CC ihr Buch Be Calm nennt. So heißt doch dein Meditationszentrum.«
Schweigen.
»Und?«, sagte Gabri, der ahnte, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war.
»Das muss ein Zufall sein«, erklärte Emilie ruhig. »Vielleicht ist es auch eine Verneigung vor dir, ma belle.« Sie wandte sich zu Mother und legte eine schmale Hand auf den rundlichen Arm ihrer Freundin. »Sie wohnt jetzt seit ungefähr einem Jahr in dem alten Hadley-Haus und empfindet deine Arbeit bestimmt als Inspiration. Es ist eine Hommage an deine Spiritualität.«
»Und ihr Haufen Mist ist wahrscheinlich höher als deiner«, beruhigte Kaye sie. »Das muss ein gutes Gefühl sei. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist«, sagte sie zu Ruth, die erfreut auf ihre Heldin blickte.
»Schöne Frisur.« Olivier wandte sich an Clara, in der Hoffnung, die Stimmung aufzulockern.
»Danke.« Clara fuhr sich mit der Hand durch die Haare, was dazu führte, dass sie in alle Richtungen abstanden und sie aussehen ließen, als hätte sie gerade jemand erschreckt.
»Du hast recht«, sagte Olivier zu Myrna. »Sie sieht aus wie ein verängstigter Infanterist in den Schützengräben von Vimy. Dieser Look steht nicht vielen. Sehr mutig, sehr neues Millennium. Ich beglückwünsche dich.«
Claras Augen verengten sich, und sie warf Myrna, die von einem Ohr zum anderen grinste, einen bitterbösen Blick zu.
»Scheiß auf den Papst«, sagte Kaye.
CC rückte den Stuhl erneut zurecht. Sie stand angekleidet und allein in dem Hotelzimmer. Saul war gegangen, ohne ihr einen Abschiedskuss zu geben oder einen einzufordern.
Sie war erleichtert, als er ging. Jetzt konnte sie es endlich tun.
CC stand am Fenster, ein Exemplar von Be Calm in der Hand. Langsam hob sie das Buch und drückte es an ihre Brust, als hätte ihr genau das ihr ganzes Leben lang gefehlt.
Sie legte den Kopf in den Nacken und wartete. Würde sie ihnen in diesem Jahr entgehen? Nein. Ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Dann flatterten ihre Lider, und ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Dann kamen sie, strömten kalt über ihre Wangen in die offene, stumme Mundhöhle. Sie stürzte ihnen hinterher in den dunklen Abgrund und fand sich in einem vertrauten Zimmer zur Weihnachtszeit wieder.
Ihre Mutter stand neben einer riesigen, toten, ungeschmückten Tanne, die in eine Ecke des nüchternen, dunklen Zimmers gelehnt war, um sie herum ein Teppich spitzer Nadeln. An dem Baum hing eine einzelne Kugel, die ihre Mutter gerade hysterisch heulend herunterriss. CC konnte die Nadeln noch immer auf den Boden prasseln hören und die Kugel auf sich zurasen sehen. Sie wollte sie nicht fangen. Hatte bloß ihre Hände in die Höhe gestreckt, um ihr Gesicht zu schützen, aber die Kugel war direkt in ihren Händen gelandet und dort liegen geblieben, als hätte sie ein Zuhause gefunden. Ihre Mutter saß inzwischen auf dem Boden und wiegte sich weinend vor und zurück, und CC wollte nur, dass sie damit aufhörte. Wollte sie zum Schweigen bringen, ihr sagen, sie solle still sein, sie beruhigen, bevor die Nachbarn wieder die Polizei riefen und ihre Mutter wieder weggebracht wurde. Und CC bei irgendwelchen Fremden zurückblieb.
Einen Moment nur sah CC auf die Kugel in ihren Händen. Sie schimmerte und fühlte sich warm an. Es war ein schlichtes Bild darauf gemalt. Drei hohe Kiefern, die wie eine Familie zusammenstanden, auf den gebogenen Ästen lag Schnee. Darunter stand in der Handschrift ihrer Mutter Noël.
CC beugte sich zu der Kugel und verlor sich in dem Frieden, der Ruhe und dem Licht. Aber sie musste zu lange geguckt haben. Ein Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Träumen auf und brachte sie unsanft zu dem vor ihr liegenden Schrecken zurück.
»Was ist da drinnen los? Lassen Sie uns rein«, befahl die Stimme des Mannes auf der anderen Seite der Tür.
CC gehorchte, doch es war das letzte Mal, dass sie irgendjemanden irgendwo einließ.
Crie ging am Ritz vorbei, blieb stehen und starrte das Nobelhotel an. Der Portier ignorierte sie und bot ihr nicht an, die Tür für sie zu öffnen. Langsam ging sie weiter, der Schneematsch war durch ihre Stiefel gedrungen, die Wollhandschuhe baumelten an ihren Händen, schwer von dem daran haftenden Schnee.
Es war ihr egal. Sie stapfte durch die dunklen, verschneiten, verstopften Straßen, Fußgänger rempelten