ganz Wunderbares. Sie verliebte sich in Peter Morrow und erklärte sich bereit, New York später im Sturm zu erobern. Stattdessen zog sie in das kleine Dorf südlich von Montréal, das er so sehr mochte. Clara kannte die Gegend nicht, sie war ein richtiges Stadtkind, aber sie liebte Peter so sehr, dass sie nicht eine Sekunde zögerte.
So kam es, dass Clara, clevere und zynische Absolventin der Kunstakademie, vor sechsundzwanzig Jahren aus ihrem klapprigen VW Käfer stieg und in Tränen ausbrach.
Peter hatte sie in das verzauberte Dorf ihrer Kindheit gebracht. Das Dorf, das sie in dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit und in der Überheblichkeit, die das Erwachsenendasein begleiteten, vergessen hatte. Ogilvy’s Schaufenster gab es also in Wirklichkeit, und es hieß Three Pines. Sie hatten ein kleines Haus am Dorfanger gekauft und sich ein Leben geschaffen, das mehr Zauber in sich barg, als Clara jemals zu träumen gewagt hätte.
Ein paar Minuten später öffnete Clara in dem gut geheizten Auto den Reißverschluss ihres Anoraks und betrachtete die vorüberziehende Schneelandschaft. Dies war ein besonderes Weihnachten, aus Gründen, die zugleich furchtbar und wunderbar waren. Ihre liebe Freundin und Nachbarin Jane Neal war vor gut einem Jahr ermordet worden und hatte Clara ihr gesamtes Vermögen vermacht. Das vorangegangene Weihnachten hatte sie ein zu schlechtes Gewissen gehabt, um etwas von dem Geld auszugeben. Sie hätte das Gefühl gehabt, von Janes Tod zu profitieren.
Myrna warf Clara einen Blick zu, ihre Gedanken nahmen dieselbe Richtung. Sie erinnerte sich an die liebe, tote Jane Neal und den Rat, den sie Clara nach dem Mord an Jane gegeben hatte. Myrna war es gewohnt, Ratschläge zu erteilen. Sie hatte in Montréal als Psychotherapeutin gearbeitet, bis ihr klar geworden war, dass die meisten ihrer Patienten eigentlich gar nicht wollten, dass es ihnen besser ging. Sie wollten eine Pille und die Bestätigung, dass es nicht ihre Schuld war, wenn irgendetwas schiefging.
Irgendwann hatte Myrna das Handtuch geworfen. Sie hatte ihr kleines rotes Auto mit Büchern und Kleidern vollgeladen und war über die Brücke gefahren, von der Insel Montréal herunter, nach Süden in Richtung der Grenze zu den USA. Sie wollte nach Florida, sich an den Strand setzen und überlegen, was sie tun sollte.
Aber das Schicksal und eine Heißhungerattacke waren ihr dazwischengekommen. Myrna war in gemütlichem Tempo über die gewundenen Landstraßen gefahren und erst etwa eine Stunde unterwegs, als sie plötzlich Hunger überkam. Das Auto schnaufte auf einer Schotterstraße einen Hügel hoch, von der Kuppe aus sah sie plötzlich versteckt in den Wäldern ein Dorf zu ihren Füßen liegen. Myrna war so verzaubert von dem Anblick, dass sie anhielt und ausstieg. Das Frühjahr neigte sich dem Ende zu, und die Sonne nahm langsam an Kraft zu. Ein Bach rauschte unter einer alten steinernen Mühle durch, an einer weiß gestrichenen Holzkirche vorbei und mäanderte am Rand des Dorfes entlang. Das Dorf selbst bildete einen Kreis um den Dorfanger, von dem in alle vier Richtungen unbefestigte Straßen abgingen. Die alten Häuser um den Dorfanger waren zum Teil im Québecer Stil mit steil abfallenden Blechdächern und schmalen Gauben gebaut, andere waren geschindelt und hatten breite, offene Veranden. Mindestens eines war aus Naturstein, errichtet aus den Steinen der umliegenden Felder, von einem Pionier, der im Wettlauf mit dem herannahenden, mörderischen Winter geschuftet hatte.
Auf dem Anger befand sich ein Teich, an dessen einem Ende erhoben sich drei majestätische Kiefern.
Myrna holte ihre Karte von Québec hervor. Nach ein paar Minuten faltete sie sie wieder zusammen und lehnte sich verwundert gegen das Auto. Das Dorf war nicht in der Karte verzeichnet. Es waren Orte darin verzeichnet, die seit Jahrzehnten nicht mehr existierten. Es waren winzige Fischerdörfer und Weiler, die aus zwei Häusern und einer Kirche bestanden, darin verzeichnet.
Aber dieses Dorf nicht.
Sie sah zu den Dorfbewohnern hinunter, die in ihren Gärten arbeiteten, ihre Hunde ausführten oder lesend auf einer Bank am Teich saßen.
Vielleicht war es ein verzaubertes Dorf wie im Märchen, tauchte nur alle paar Jahre auf und erschien dann auch nur Leuten, die sich danach sehnten. Dennoch zögerte Myrna. Bestimmt gab es auch dort nicht das, wonach sie sich sehnte. Beinahe hätte sie kehrtgemacht und wäre nach Williamsburg gefahren, das wenigstens auf der Karte stand, aber dann entschloss sie sich, das Wagnis einzugehen.
Three Pines hatte all das, wonach sie sich sehnte.
Es gab Croissants und café au lait. Es gab Steak mit Pommes frites und die New York Times. Es gab eine Bäckerei, ein Bistro, eine Pension, einen Gemischtwarenladen. Hier fand sie Frieden, Stille und Heiterkeit. Sie fand große Freude und große Traurigkeit und die Fähigkeit, beides zu akzeptieren und zufrieden zu sein. Sie fand Gemeinschaft und Freundlichkeit.
Und einen leer stehenden Laden mit einer Wohnung darüber. Für sie.
Myrna blieb für immer.
Innerhalb von nur wenig mehr als einer Stunde war Myrna aus einer Welt des Zweifels in eine Welt der Zufriedenheit gewechselt. Das war vor sechs Jahren. Heute brachte sie neue und gebrauchte Bücher und ebensolche Ratschläge unter ihre Freunde.
»Um Himmels willen, komm doch endlich mal wieder in die Pötte«, hatte sie zu Clara gesagt. »Es ist Monate her, seit Jane gestorben ist. Du hast geholfen, den Mord an ihr aufzuklären. Du weißt genau, dass Jane sich ärgern würde, dass sie dir all ihr Geld hinterlassen hat, und du freust dich nicht einmal darüber. Hätte sie es doch mir gegeben.« Myrna hatte in gespieltem Bedauern den Kopf geschüttelt. »Ich hätte etwas damit anzufangen gewusst. Zack, runter nach Jamaika, ein netter Rastafari, ein gutes Buch …«
»Moment mal. Du angelst dir einen Rastafari und liest dann ein Buch?«
»Na klar. Beide erfüllen jeweils einen bestimmten Zweck. Ein Rastafari ist ganz toll, wenn er hart ist, bei einem Buch ist das nicht der Fall.«
Clara lachte. Sie teilten die Abneigung gegen gebundene Bücher. Mit dem festen Einband hatte man im Bett wenig Freude.
»Anders als bei einem Rastafari«, sagte Myrna.
Myrna hatte ihre Freundin dazu gebracht, den Tod von Jane zu akzeptieren und das Geld auszugeben. Was Clara an diesem Tag auch vorhatte. Endlich würden sich auf der Rückbank des Autos schwere Papiertüten in satten Farben stapeln, mit Tragegriffen aus Kordel und geprägten Schriftzügen mit Namen wie Holt Renfrew und Ogilvy. Keine einzige quietschgelbe Plastiktüte aus dem Ramschladen. Auch wenn Clara Ramschläden insgeheim liebte.
Zu Hause starrte Peter aus dem Fenster und zwang sich dazu, aufzustehen und etwas mit seiner Zeit anzufangen, ins Atelier zu gehen und an seinem Gemälde zu arbeiten. In diesem Moment sah er, dass an einer Stelle das Eis von der Scheibe gekratzt worden war. In Form eines Herzens. Er lächelte und sah hindurch, sah, dass in Three Pines alles seinen gewohnt gemütlichen Lauf nahm. Dann blickte er nach oben, zu dem verschachtelten alten Haus auf dem Hügel. Das alte Hadley-Haus. Noch während er hinaufblickte, fingen die Eisblumen wieder an zu wachsen und füllten das Herz mit Eis.
3
»Von wem ist das?«, fragte Saul CC und hob die Mappe mit den Bildern in die Höhe.
»Was?«
»Die Mappe hier.« Er stand nackt im Hotelzimmer. »Ich habe sie im Papierkorb gefunden. Von wem ist sie?«
»Von mir.«
»Von dir?« Er starrte sie verblüfft an. Einen Moment lang fragte er sich, ob er sie falsch eingeschätzt hatte. Das waren eindeutig die Arbeiten eines begnadeten Künstlers.
»Natürlich nicht. Irgendein Spaßvogel aus dem Dorf hat sie mir gegeben, damit ich sie den Galeristen, mit denen ich befreundet bin, zeige. Hat versucht, mir in den Hintern zu kriechen, ich hätte mich totlachen können. ›Ach bitte, CC, du kennst doch die tollsten Leute.‹ ›Ach, CC, würde es dir sehr viel ausmachen, meine Arbeiten einigen von deinen Freunden zu zeigen?‹ Schreckliche Nervensäge. Stell dir nur vor, mich um einen Gefallen zu bitten! Hatte sogar den traurigen Mut, mich unumwunden zu fragen, ob ich sie nicht Denis Fortin zeigen könnte.«
»Was hast du gesagt?« Das Herz wurde ihm schwer. Er kannte die Antwort eigentlich schon.
»Ich