Louise Penny

Tief eingeschneit


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und was nicht.

      »Das sehe ich«, gab Madame Latour patzig zurück. Der ungeheure Stress, jedes Jahr Miss Edwards Krippenspiel auf die Beine zu stellen, hatte merklich an ihr gezehrt.

      Aber es war nicht das Lampenfieber, das Crie erstarren ließ. Es war etwas, das nicht da war, was sie zum Innehalten brachte.

      Crie wusste aus langer Erfahrung, dass das, was man nicht sah, am schlimmsten war.

      Was Crie nicht sah, brach ihr das Herz.

      »Ich erinnere mich, was mein erster Guru, Ramen Das, zu mir sagte«, CC lief mittlerweile in einem weißen Bademantel im Hotelzimmer herum, packte Briefpapier und Seifen ein und erzählte ihre Lieblingsgeschichte. »›CC Das‹, sagte er. So nannte Ramen Das mich«, erklärte CC dem Briefpapier. »Nur wenigen Frauen wurde diese Ehre zuteil, besonders im Indien der damaligen Zeit.«

      Ramen Das hatte vielleicht gar nicht gemerkt, dass CC eine Frau war, dachte Saul.

      »Das war vor zwanzig Jahren. Ich war noch ein Kind, unschuldig, aber selbst damals war ich schon auf der Suche nach der Wahrheit. Ich traf in den Bergen auf Ramen Das, und wir hatten sofort eine spirituelle Verbindung.«

      Sie legte ihre Hände aneinander, und Saul hoffte, dass sie jetzt nicht sagen würde …

      »Namaste«, sagte CC und verbeugte sich. »Das hat er mir beigebracht. Sehr spirituell.«

      Sie nahm das Wort »spirituell« so oft in den Mund, dass es für Saul jede Bedeutung verloren hatte.

      »Er sagte: ›CC Das, du hast eine große spirituelle Begabung. Du musst diesen Ort verlassen und sie der Welt zuteilwerden lassen. Du musst den Menschen sagen, wie sie Ruhe finden, to be calm‹, sagte er.«

      Während sie redete, formte Saul jedes der Worte gleichzeitig lautlos mit den Lippen.

      »›CC Das‹, sagte er, ›wer, wenn nicht du, weiß, dass alles weiß ist, wenn sich die Chakras im Gleichgewicht befinden. Wenn alles weiß ist, ist alles gut.‹«

      Saul fragte sich, ob sie gerade einen indischen Mystiker mit einem Ku-Klux-Klan-Mitglied verwechselte. Wenn, dann war das wirklich höchst ironisch.

      »›Du musst wieder in die Welt zurück‹, sagte er. ›Es wäre falsch, dich noch länger hier zu halten. Du musst ein Unternehmen gründen und es Be Calm nennen.‹ Und das tat ich. Deshalb habe ich auch dieses Buch geschrieben. Um das Wort der Spiritualität zu verbreiten. Die Menschen müssen davon erfahren. Diese ganzen dubiosen Sekten führen die Menschen nur in die Irre und nutzen sie aus. Es war meine Pflicht, ihnen von Li Bien zu berichten.«

      »Moment, das verstehe ich nicht«, sagte Saul und sah mit Genugtuung, dass Ärger in ihren Augen aufblitzte. CCs Reaktionen waren bis aufs Letzte vorhersehbar. Sie hasste es, wenn man andeutete, dass ihre Ideen aus irgendeinem Grund nicht völlig einsichtig waren. »War es Ramen Das, der dir von Li Bien erzählt hat?«

      »Nein, du Idiot. Ramen Das war in Indien. Li Bien ist eine alte orientalische Philosophie, die in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird.«

      »Von alten chinesischen Philosophen?« Da sie ihm ohnehin bald den Laufpass geben würde, konnte er ihr jetzt ruhig eins reinwürgen. Dann hätte er später eine lustige Geschichte zu erzählen. Um seiner Unterhaltung etwas von ihrer Geistlosigkeit zu nehmen. Er würde CC zur Lachnummer machen.

      Sie schnalzte mit der Zunge und schnaubte. »Du weißt, dass meine Familie aus Frankreich stammt. Frankreich kann auf eine lange, ehrenvolle Geschichte der Kolonisierung des Ostens zurückblicken.«

      »O ja. Zum Beispiel in Vietnam.«

      »Genau. In meiner Familie gab es Diplomaten, die einige der alten spirituellen Lehren mit zurückbrachten, unter anderem Li Bien. Ich habe dir das doch alles schon erzählt. Vielleicht hast du nicht zugehört. Abgesehen davon steht es in meinem Buch. Hast du es etwa nicht gelesen?«

      Sie warf es in seine Richtung, und er duckte sich, nachdem es ihn bereits am Arm getroffen hatte.

      »Natürlich habe ich dein verdammtes Buch gelesen. Ich habe es wieder und wieder durchgekaut und dann noch mal.« Er musste sich sehr zusammenreißen, es nicht als den hochgradigen Schwachsinn zu bezeichnen, der es seiner Meinung nach war. »Ich kenne die Geschichte. Deine Mutter hat eine Li-Bien-Kugel bemalt, das ist die einzige Hinterlassenschaft, die du von ihr besitzt.«

      »Nicht nur von ihr, Arschloch. Von meiner ganzen Familie.« Mittlerweile zischte sie nur noch. Er wollte sie ärgern, aber mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Als sie sich erhob und ihre Gestalt die Sonne verdunkelte, ihn allen Lichtes beraubte, fühlte er sich plötzlich wie ein Zwerg, ein Kind. Er schrumpfte und winselte und kauerte sich zusammen. Innerlich. Nach außen hin stand er stocksteif da und starrte sie an. Er fragte sich, was ein solches Monster hervorgebracht hatte.

      CC hätte ihm am liebsten die Arme herausgerissen. Die Glupschaugen aus den Höhlen gedrückt, das Fleisch von den Knochen gekratzt. Sie spürte eine Kraft in ihrer Brust wachsen und sich ausdehnen, wie ein Stern, der sich in eine Supernova verwandelte. Sie wollte den Pulsschlag an seinem Hals spüren, während sie ihn würgte. Sie hätte es gekonnt. Obwohl er größer und kräftiger war, hätte sie es tun können. Wenn sie sich so fühlte, gab es nichts, was sie aufhalten konnte, das wusste sie.

      Nach einem Mittagessen aus gedünstetem Lachs und gigot d’agneau hatten sich Clara und Myrna getrennt, um ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Aber zunächst wollte sich Clara auf die Suche nach Siegfried Sassoon machen.

      »Du willst in eine Buchhandlung?«, fragte Myrna.

      »Natürlich nicht. Ich will mir die Haare schneiden lassen.« Also wirklich, Myrna hatte keine Ahnung mehr.

      »Von Siegfried Sassoon?«

      »Nicht von ihm persönlich, aber von jemandem in seinem Salon.«

      »Soweit ich weiß, ist es die Hölle, in der Jugend und Lachen verschwinden.«

      Clara hatte Bilder von Sassoon-Salons gesehen und dachte, dass Myrnas Beschreibung zwar ein wenig übertrieben war, aber nicht ganz danebenlag, ging man nach den finster dreinschauenden Frauen mit den Schmollmündern auf den Fotos.

      Einige Stunden später kämpfte sich eine erschöpfte und zufriedene Clara, bepackt mit Tüten voller Geschenke, die Rue St. Catherine hoch. Ihre Shoppingtour war höchst erfolgreich gewesen. Sie hatte für Peter das perfekte Geschenk gefunden und für Verwandte und Freunde hübsche Kleinigkeiten. Myrna hatte recht. Jane hätte ihren Spaß daran gehabt, zu sehen, dass sie das Geld ausgab. Auch was Sassoon anging, hatte Myrna recht, wenn Clara auch nicht gleich darauf gekommen war, was sie meinte.

      »Seidenstrümpfe? Schokoriegel?«, erklang hinter ihr die melodische, warme Stimme.

      »Gerade habe ich an dich gedacht, du hinterhältiges Luder. Du hast mich in die finstersten Gassen Montréals geschickt, wo ich Wildfremde fragen musste, wo ich Siegfried Sassoon finde.«

      Myrna lehnte sich brüllend vor Lachen gegen die Wand eines alten Bankgebäudes.

      »Ich weiß nicht, ob ich mich aufregen soll oder erleichtert bin, dass keiner ahnte, dass ich mir von einem toten Dichter aus dem Ersten Weltkrieg die Haare schneiden lassen wollte. Warum hast du mir nicht gesagt, dass er Vidal und nicht Siegfried heißt?« Mittlerweile lachte auch Clara und ließ ihre Taschen auf den schneebedeckten Bürgersteig plumpsen.

      »Du siehst toll aus«, sagte Myrna, als sie sich schließlich wieder beruhigt hatte, und trat einen Schritt zurück, um Clara zu mustern.

      »Ich habe eine Mütze auf dem Kopf, du dumme Kuh«, sagte Clara, und beide Frauen brachen erneut in Lachen aus, als sich Clara die Pudelmütze tief über die Ohren zog.

      Es war schwer, unter diesen Umständen nicht unbeschwert zu sein. Es war fast vier am Nachmittag des 22. Dezember, und die Sonne war bereits untergegangen. Die Straßen von Montréal, über denen immer ein gewisser Zauber lag, erstrahlten zu dieser Zeit des Jahres im Lichterglanz. Die ganze Rue St. Catherine war mit Weihnachtsschmuck