Louise Penny

Tief eingeschneit


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den Tag begonnen, als sei es der erste und alles möglich, er hatte gesehen, wie bezaubernd Montréal war. Er hatte gesehen, wie die Leute lächelten, wenn man ihnen in einem der Cafés ihren Cappuccino brachte oder sie ihre Blumen oder ihr Baguette in Empfang nahmen. Er hatte gesehen, wie im Herbst die Kinder die heruntergefallenen Kastanien zum Basteln einsammelten. Er hatte die alten Frauen gesehen, die untergehakt die Main Street entlanggegangen waren.

      Er war weder so dumm noch so blind, dass er nicht auch all die obdachlosen Männer und Frauen bemerkte oder die bleichen, geschundenen Gesichter, die von einer langen, trostlosen Nacht zeugten und einem noch längeren vor ihnen liegenden Tag.

      Aber tief in seinem Herzen hielt er das Leben für schön. Das spiegelte sich in seinen Fotos, die das Licht, das Strahlen, die Hoffnung einfingen. Natürlich auch die Schatten, die das Licht von Natur aus begleiteten.

      Ironischerweise war es genau das, was CCs Aufmerksamkeit erregt und sie dazu gebracht hatte, ihm ein Angebot zu unterbreiten. Ein Artikel in einer Hochglanzzeitschrift aus Montréal hatte ihn als »angesagten« Fotografen bezeichnet, und CC gab sich immer nur mit dem Besten zufrieden. Weshalb sie auch immer ein Zimmer im Ritz nahmen. Ein enges, trübseliges Zimmer auf einer der unteren Etagen ohne Aussicht und Charme, aber im Ritz. CC würde das Shampoo und das Briefpapier mitnehmen, um damit ihren Wert zu demonstrieren, so wie sie ihn genommen hatte. Sie benutzte diese Dinge, um damit bei Leuten Eindruck zu schinden, denen das eigentlich egal war, so wie bei ihm. Irgendwann sortierte sie dann aus. So hatte sie ihren Ehemann ausgemustert, so ignorierte sie ihre Tochter oder machte sich über sie lustig.

      In der Welt ging es brutal und unsensibel zu.

      Davon war er mittlerweile auch überzeugt.

      Er hasste CC de Poitiers.

      Er stieg aus dem Bett, ließ CC de Poitiers und ihr Buch, das sie zärtlich betrachtete, zurück. Er sah sie an, und ihr Bild verschwamm vor seinen Augen. Er legte den Kopf schief und fragte sich, ob er wieder einmal zu viel getrunken hatte. Aber ihr Bild verschwamm noch mehr, dann wurde es wieder scharf, als würde er zwei verschiedene Frauen durch ein Prisma ansehen, die eine schön, glamourös, lebendig und die andere eine dumme, blondierte Ziege, ewig meckernd, bockig, kratzbürstig. Und gefährlich.

      »Was ist das?« Er griff in den Papierkorb und holte eine Mappe heraus. Eine Künstlermappe, offenbar. Sie war sorgfältig und mit viel Geschmack in altes Büttenpapier gebunden. Er schlug sie auf, und ihm stockte der Atem.

      Eine Serie von Arbeiten, licht und leicht, die auf dem Papier zu leuchten schienen. Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust regte. Die Bilder zeigten eine sowohl bezaubernde als auch verletzliche Welt. Vor allem aber war es eine Welt, in der es noch Hoffnung und Trost gab. Es war eindeutig die Welt, die der Künstler täglich sah, die Welt, in der der Künstler lebte. So wie er selbst einmal in einer Welt voller Licht und Hoffnung gelebt hatte.

      Die Bilder sahen einfach aus, waren in Wirklichkeit aber sehr komplex. Motive und Farben waren übereinandergeschichtet. Der Künstler musste viele Stunden und Tage daran gearbeitet haben, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

      Er blickte auf das vor ihm liegende Blatt. Ein majestätischer Baum ragte hoch in den Himmel, als strecke er sich nach der Sonne. Der Künstler hatte ihn fotografiert und dabei einen Moment der Bewegung eingefangen, ohne dass das Bild deswegen unruhig wirkte. Im Gegenteil, es strahlte Würde aus, Ruhe und vor allem Kraft. Die Spitzen der Zweige schienen zu schmelzen oder zu verschwimmen, so als bliebe bei allem Selbstvertrauen und Streben ein winziger Zweifel. Es war brillant.

      Jeder Gedanke an CC war vergessen. Er war in den Baum geklettert, spürte beinahe das Kratzen der rauen Rinde, wie damals, als er auf dem Schoß seines Großvaters gesessen und sich an dessen unrasierte Wange geschmiegt hatte. Wie hatte der Künstler das nur zustande gebracht?

      Er entdeckte keine Signatur. Er blätterte weiter und spürte, wie sich langsam ein Lächeln auf sein gefrorenes Gesicht stahl und bis in sein verhärtetes Herz drang.

      Wenn eines Tages die Geschichte mit CC beendet war, könnte er vielleicht wieder seine eigentliche Arbeit aufnehmen und Bilder wie diese hier schaffen.

      Mit einem Seufzer entwich all die Dunkelheit, die sich in ihm angesammelt hatte.

      »Und, gefällt es dir?« CC hob ihr Buch hoch und wedelte damit herum.

      2

      Crie legte ihr Kostüm vorsichtig zurecht, um den weißen Chiffon nicht zu zerreißen. Das Krippenspiel hatte schon begonnen. Sie hörte die unteren Klassen »Es ist ein Ros’ entsprungen« singen, auch wenn es sich verdächtig nach »Es ist ein Ross entsprungen« anhörte. Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob sie damit gemeint war. Machten sie sich über sie lustig? Sie verdrängte den Gedanken und fing leise vor sich hin summend an, in das Kostüm zu steigen.

      »Wer ist das?« Über das Geplapper der vielen Kinder hinweg war die Stimme von Madame Latour, der Musiklehrerin, zu hören. »Wer summt da?«

      Madames vogelähnliches, kluges Gesicht sah um die Ecke, wohin sich Crie verzogen hatte, um sich in Ruhe umzuziehen. Instinktiv packte Crie das Kostüm und versuchte, ihren fast nackten, vierzehnjährigen Körper damit zu bedecken. Was natürlich nicht ging. Zu viel Körper und zu wenig Chiffon.

      »Warst du das?«

      Crie starrte sie an und brachte vor Angst keinen Ton heraus. Ihre Mutter hatte sie gewarnt. Hatte sie davor gewarnt, in der Öffentlichkeit zu singen.

      Aber heute war ihr so leicht ums Herz gewesen, dass sie sich zu einem Summen hatte hinreißen lassen.

      Madame Latour sah auf das fette Mädchen und spürte Ekel in sich aufsteigen. Diese Fettwülste und die schrecklichen Dellen, die Unterwäsche, die unter den Fleischmassen verschwand. Das Gesicht wie eingefroren, ein starrer Blick. Der Physik- und Biologielehrer, Monsieur Drapeau, hatte gesagt, dass Crie in seinen Fächern die Beste sei, woraufhin ein anderer Lehrer eingeworfen hatte, dass in diesem Halbjahr Vitamine und Mineralstoffe Unterrichtsthema gewesen seien und dass Crie das Buch wahrscheinlich verschlungen hätte.

      Wie dem auch war, sie nahm jedenfalls an der Aufführung teil, vielleicht ging sie endlich einmal aus sich heraus, auch wenn das natürlich einen ziemlichen Kraftakt darstellen würde.

      »Du musst dich beeilen. Du bist gleich dran.« Sie verschwand, ohne auf eine Antwort zu warten.

      Das war die erste Weihnachtsaufführung, an der Crie in den fünf Jahren, die sie nun schon Miss Edwards Mädchenschule besuchte, teilnahm. Die anderen Jahre hatte sie sich irgendwelche Entschuldigungen überlegt, während die anderen Schüler sich Gedanken über Kostüme machten. Keiner hatte je versucht, sie zum Mitmachen zu überreden. Stattdessen hatte man ihr die Aufgabe übertragen, für das Bühnenlicht zu sorgen, da sie nun mal ein Händchen für alles Technische hatte, wie Madame Latour es formulierte. Tote Materie, hatte sie gemeint. So kam es, dass Crie die Weihnachtsaufführung jedes Jahr allein im Dunkeln und nur von hinten sah, während die schönen, strahlenden, talentierten Mädchen tanzend und singend und von Crie ins rechte Licht gesetzt die Geschichte vom Weihnachtswunder vorgetragen hatten.

      Nicht so in diesem Jahr.

      Sie zog ihr Kostüm an und musterte sich im Spiegel. Eine riesige Schneeflocke aus Chiffon blickte zurück. Sie musste zugeben, dass es eher nach einer Schneeverwehung als einer einzelnen Schneeflocke aussah, aber immerhin war es ein Kostüm und eigentlich auch recht schön. Den anderen Mädchen hatten ihre Mütter geholfen, aber Crie hatte ihres ganz alleine genäht. Um Mommy zu überraschen, hatte sie sich eingeredet und versucht, die andere Stimme zum Schweigen zu bringen.

      Wenn sie genau hinsah, konnte sie die winzigen Blutstropfen sehen, wo ihre dicken, plumpen Finger mit der Nadel herumgestochert und die eigene Hand getroffen hatten. Aber sie hatte sich davon nicht beirren lassen, bis das Kostüm fertig war. Und dann hatte sie einen Geistesblitz. Wirklich, es war der beste Gedanke, den sie in ihren vierzehn Jahren gehabt hatte.

      Ihre Mutter verehrte das Licht, das wusste sie. Danach, erzählte sie ihr ohne Unterlass, strebten alle Menschen. Deshalb spreche man auch von Erleuchtung. Deshalb würden kluge Leute als