die Frau, während sie die Wassergläser füllte.
Meg schluckte. „Sie ist vor ein paar Monaten verstorben.“
Hannah empfand Mitgefühl für Meg, aber auch für die Kellnerin.
„Oh, das tut mir so leid“, erwiderte die Frau. „Ich erinnere mich noch, dass Ihre Mutter immer dasselbe bestellt hat, nicht? Hähnchensalat mit Kirschen auf Weizenbrot.“ Meg nickte, und in ihren großen, braunen Augen schimmerten Tränen. „Ich komme gleich noch mal wieder“, sagte die Kellnerin und tätschelte Megs Schulter, bevor sie zu einem anderen Tisch weiterging.
Meg vertiefte sich in die Speisekarte und versuchte, ihrer Tränen Herr zu werden.
„Es tut mir so leid, Meg.“ In zweierlei Hinsicht, dachte Hannah. Zum einen, weil Meg so traurig war, aber auch, weil sie ungewollt daran beteiligt gewesen war, dass diese Wunde wieder aufgerissen wurde. Erneut spürte sie, wie sich die ihr so vertraute Last der Verantwortung auf ihre Schultern legte, und sie sank ein Stückchen zusammen. Hilf mir, Herr.
Meg zuckte kraftlos die Achseln. „Wenn meine Mutter jetzt hier wäre, würde sie sagen, ich solle mich nicht so anstellen. Ich höre ihre Stimme in meinem Kopf, wissen Sie? Du bist so überempfindlich! Und sie hat recht. Sie hatte recht, meine ich.“ Meg holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und versuchte, die verräterischen Spuren ihrer Trauer zu beseitigen, aber dadurch machte sie alles nur noch schlimmer. Ihre Wimperntusche hinterließ schwarze Streifen auf ihrem Gesicht.
Hannah wollte Meg gerade auffordern, über ihren Schmerz zu reden, wollte sie durch einen Teil des Trauerprozesses führen, als ein Gedanke in ihr aufblitzte. Ein kleiner Schubser in eine andere Richtung. Vielleicht brauchte Meg eine Freundin, nicht eine Pastorin.
„Ich musste erst lernen, meine Empfindsamkeit als eine meiner größten Gaben anzunehmen. Ich würde sie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Aber sie ist auch eine Belastung, mit der ich umgehen muss. Es ist schwierig – manchmal äußerst anstrengend. Ein Segen und ein Fluch zugleich, nicht?“
„Für mich eher ein Fluch“, erwiderte Meg. „Zum Glück hat meine Tochter Becca ein dickeres Fell abbekommen.“
Wieder kam die Pastorin in Hannah zum Vorschein. Sie wollte Megs Bemerkung aufgreifen und die Ursachen hinter ihrer Unsicherheit und ihrem mangelnden Selbstwertgefühl erforschen. Doch dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie nicht als Pastorin hier war. Meg war nicht auf der Suche nach Rat oder Seelsorge zu ihr gekommen. Und auf einmal war da ärgerlicherweise Steves Stimme in ihrem Kopf. Schon wieder. Du weißt gar nicht mehr, wer du bist, wenn du nicht deinen Beruf ausübst.
Ach, sei still! Diese Frau brauchte ganz eindeutig seelsorgerliche Hilfe, und sie würde die Gelegenheit nutzen. Als Meg sich entschuldigte und vom Tisch aufstand, ignorierte Hannah Steves Stimme und ließ ihre Gedanken wandern.
Meg trug keinen Ehering. War eine Scheidung ein Grund für ihren Kummer? Ein paarmal hatte sie ihre Tochter Becca erwähnt. Standen sie sich nahe, obwohl viele Tausend Kilometer zwischen ihnen lagen? Und wie kam es, dass jemand, der so schüchtern war wie Meg, beschloss, ganz allein an einer solchen Gruppe teilzunehmen? Das passte nicht zusammen. Normalerweise musste man recht selbstsicher sein, um sich für einen solchen Kurs anzumelden, oder sich so verzweifelt nach Veränderung sehnen, dass die Unzufriedenheit über die Furcht siegte. Vielleicht war das ja die Triebkraft für Meg gewesen. Sie wollte den Status quo durchbrechen. Trauer trug immer das Potenzial für Wachstum in sich, und Meg war ganz klar in Trauer. Das war nicht zu übersehen. Altes war gestorben, und das Neue wartete darauf, zur Welt zu kommen. Aber Hannah konnte die Zeichen deuten. Jetzt wuchs ihre Neugier umso mehr. Sie wollte Megs Geschichte hören, und sie wollte helfen. Vielleicht konnte sie Megs geistliche Hebamme sein … und Steve würde ja nichts davon erfahren.
Einige Minuten später kehrte Meg mit sorgfältig aufgefrischtem Make-up wieder an den Tisch zurück.
„Alles in Ordnung?“, fragte Hannah. Sie bemühte sich, nicht zu eifrig oder interessiert zu erscheinen. Meg nickte nur.
Ihr Gespräch beim Essen verlief freundlich und persönlich, ohne wirklich tief zu gehen, was Hannah enttäuschte. Sie übernahm die Gesprächsführung, erzählte von ihrer Kindheit und hoffte, ihre Offenheit würde Meg Vertrauen schenken. Hannah erzählte, dass sie in ihrer Kindheit häufig umgezogen waren und welche Schwierigkeiten sie damit gehabt hatte. Ihr Vater war Handelsvertreter gewesen, und sie waren seiner Arbeit gefolgt. Als Hannah 15 war, war es schließlich mit den häufigen Umzügen vorbei gewesen, den Grund dafür verschwieg sie allerdings. Darüber sprach sie niemals und Meg stellte keine Fragen.
Meg hatte ihr ganzes Leben in Kingsbury verbracht. Sie sprach von ihrer Liebe zur Musik und von den vielen Klavierschülern, die sie im Laufe der Jahre unterrichtet hatte. „Anfänger“, erklärte sie. „Für die Fortgeschrittenen bin ich nicht gut genug.“ Hannah hätte gern viele Fragen gestellt, aber sie spürte keine Bereitschaft von Meg, sie zu beantworten.
Sie machte sich etwas vor, nicht? Sie war nicht wegen Meg oder Mara oder sonst jemandem in diesem Kurs. Wann würde sie endlich akzeptieren, dass diese Sabbatzeit einfach nur für sie war?
Auf dem Rückweg zum See wurde ihr klar, dass die kommenden neun Monate noch schwieriger und unbequemer werden würden, als sie gedacht hatte.
Kapitel 3
Dem Herzen Gottes
näherkommen
Daraufhin fragte er sie: „Und was meint ihr, wer ich bin?“
Matthäus 15,16
Mara
Mara Payne saß still an ihrem Pult, während sich die Mädchen in ihrer Klasse aufgeregt über Kristie Van Burens bevorstehende Geburtstagsparty unterhielten. Kristie war das beliebteste Mädchen in der Klasse, und sie wohnte in einem großen Haus auf der Cliburn Avenue.
„Hast du gehört, dass es Ponyreiten im Garten geben wird?“
„Kristie hat mir erzählt, dass wir die ganze Nacht aufbleiben und uns Geistergeschichten erzählen können!“
Kristie hatte versprochen, Mara zu ihrer Geburtstagsparty einzuladen, wenn Mara ihr helfen würde, eine Inhaltsangabe zu einem Buch zu schreiben. Mit großen Augen hatte Mara zugehört, als Kristie in allen Einzelheiten schilderte, welche Aktivitäten für die Feier geplant waren. „Du darfst am Geburtstagstisch auch neben mir sitzen“, hatte Kristie versprochen und sie freundlich angelächelt.
Mara hatte bisher noch nie bei einem anderen Mädchen übernachtet, und ihre Mutter hatte ihr extra für diese Gelegenheit ein neues Nachthemd gekauft. Doch als die Inhaltsangabe abgegeben war und die Geburtstagseinladungen verteilt wurden, musste Mara feststellen, dass es für sie keinen rosa Umschlag gab.
Kristie zuckte die Achseln und sagte: „Meine Mutter hat gesagt, dass ich zu viele Mädchen eingeladen habe. Tut mir leid. Vielleicht kannst du ja nächstes Jahr kommen.“
Auf dem Heimweg vom Einkehrzentrum wirbelten in Maras Kopf lauter entstehende Bilder und beginnende Einsichten durcheinander.
Im Labyrinth hatte sie über das nachgedacht, was sie gesehen hatte, als Katherine die biblische Geschichte vorgelesen hatte. Es war so real gewesen: Die Stimme von Jesus, seine Augen, sein Lachen. Vor allem sein Lachen. Sie hörte sein glückliches, freudiges Lachen immer noch, so als wäre ein großer Sieg errungen worden: „Mara, komm mit mir. Ich wähle dich. Kommst du mit?“
Eine Flut von schmerzlichen Erinnerungen war auf dem Weg zum Mittelpunkt des Labyrinths über sie hergefallen: das schreckliche Gefühl, nicht gewählt zu werden, der Schmerz der Zurückweisung. Mara war wieder in der Vergangenheit, erlebte manche Begebenheiten in allen Facetten noch einmal. Sie sah, wie die achtjährige Mara ganz allein auf dem Spielplatz spielte, allein im Bus saß, allein in ihrem Zimmer weinte. Sie sah die sechzehnjährige Mara, die allein zum Unterricht ging, in der Cafeteria allein am Tisch saß; allein im Bett lag, nachdem der Nachbarsjunge bekommen hatte, was er wollte. Und sie war verwirrt, ängstlich,