Sharon Garlough Brown

Unterwegs mit dir


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seiner Stelle wieder aufgehen würde. Hilf mir, Herr, betete sie, während sie zusah, wie sich die feurigen Bänder am Himmel entrollten.

      Die letzten Farbkleckse verblassten bereits, als Hannah über die Schwelle ihres vorübergehenden Heims trat. Der etwas modrige Geruch des selten bewohnten Hauses ließ eine Erinnerung in ihr lebendig werden. Sie war wieder acht Jahre alt und hüpfte durch das Ferienhaus an der kalifornischen Küste, das ihre Eltern für eine Woche gemietet hatten.

      „Papa, sieh nur!“, quietschte sie, während sie ihr Reich überblickte. „Stockbetten! Ich wollte schon immer mal in einem Stockbett schlafen!“

      Jetzt schlenderte sie langsam durch die Räume und überlegte, wo sie sich niederlassen sollte. Nancys ausgeprägter, eleganter Geschmack war überall zu erkennen. Dieses Haus gehörte nicht zu den Ferienhäusern, die mit Möbeln aus Second-Hand-Läden und ausrangierten Sachen vollgestopft waren. Dies war ein Haus, in dem Hannah sich nicht traute, die Füße auf den Tisch zu legen. Auf der anderen Seite hatte Nancy ihr genau das nahegelegt.

      Seufzend entfernte Hannah die Folie von einem großen Ge­­schenkkorb, prall gefüllt mit Keksen, Schokolade, selbst gemachter Erdbeermarmelade und einem Dutzend unterschied­licher Tee­sorten.

      Tee. Genau das brauchte sie jetzt. Eine Tasse Tee würde sie beruhigen und ihr helfen, hier anzukommen. Und dann könnte sie anfangen, ihre Bücher in die Regale einzuräumen, die Nancy für sie frei gemacht hatte.

      Sie wählte Chai mit Vanillegeschmack, füllte den Wasserkocher und las die Notiz auf der Küchentheke: „Das ist jetzt dein Zuhause, Hannah. Ruh dich aus, spiele und freu dich!“

      Ausruhen, spielen, freuen.

      Dies waren Worte, die Hannah niemals verwendete. Zumindest nicht in Bezug auf sich. Ihre Freude war ihre Arbeit. Ihre Freude war es, nützlich und produktiv zu sein. Noch immer sah sie die Praktikantin vor sich stehen, fröhlich mit den Schlüsseln zu ihrem Leben klimpernd.

      Wie hatte Steve ihr das antun können?

      Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, blätterte sie gedankenverloren durch den Stapel mit Reise- und Veranstaltungsbroschüren für die Region. Ein pflaumenblauer Flyer erregte ihre Aufmerksamkeit. Vom New Hope-Einkehrzentrum in Kingsbury hatte sie doch schon mal gehört … dann fiel ihr ein, dass Nancy ihr davon erzählt hatte. Sie hatte im Sommer dort einen Kurs besucht. Auf dem Flyer stand: Eine Einladung zu einer geist­lichen Reise. „Jesus sagt: ‚Bist du müde? Erschöpft? Unsicher in Bezug auf deinen Glauben? Komm zu mir. Mach dich mit mir auf den Weg, und du wirst dein Leben zurückgewinnen. Ich will dir zeigen, wie du zur Ruhe kommen kannst. Komm mit mir und arbeite mit mir – beobachte, wie ich das tue. Lerne den ungezwungenen Rhythmus der Gnade kennen. Ich werde dir nichts auferlegen, was du nicht tragen kannst. Bleib bei mir, und du wirst lernen, frei und leicht zu leben‘ (Matthäus 11,28-30). Kommen Sie mit auf eine geist­liche Reise …“

      Hannah lachte tonlos. Diese etwas umformulierten Worte aus der Bibel sprachen sie an, hauchten den ihr so vertrauten Versen neues Leben ein. Müde? Erschöpft? Unsicher? Steve hatte die Antwort für sie bereits gegeben: Ja, ja, ja. Und Jesus lud die erschöpften Menschen ein: Kommt. Macht euch auf den Weg. Kommt mit mir. Arbeitet mit mir. Seht zu. Lernt. Bleibt bei mir. Lebt frei und leicht.

      Kommen Sie mit auf eine geist­liche Reise.

      Mit ihrer Teetasse in der Hand ließ sich Hannah auf der Couch nieder. Doch während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, wurde ihr klar, dass es nicht nur der Stress des Packens oder die dreistündige Fahrt von Chicago hierher war, die sie erschöpft hatte. Sie war müde. Zutiefst müde. Müde von 15 Jahren pausen­losen Dienstes.

      Noch bevor sie ihren Tee ausgetrunken hatte, war Hannah eingeschlafen.

      Der Mathematiklehrer gab seiner 8. Klasse die Klassenarbeiten immer nach demselben Schema zurück: Die besten Noten kamen zuerst. An dem Tag, an dem Charissa Goodman nicht als Erste ihre Arbeit zurückbekam, hielt die ganze Klasse verblüfft den Atem an. Langsam reichte er Charissa das Arbeitsblatt. „Für alles gibt es ein erstes Mal, nicht? Dieses Mal war es nicht ganz so perfekt.“

      Charissa versteifte sich. Unter den auf sie gerichteten Blicken ihrer Klassenkameraden überflog sie ihre Arbeit. Da war er, ein lächer­licher Fehler, der ihr bei der doppelten und dreifachen Durchsicht nicht aufgefallen war. Wie hatte sie das nur übersehen können? Sie nahm das beleidigende Blatt und stopfte es in ihren Ordner, sodass sie es nicht mehr vor Augen hatte.

      Beim nächsten Mal würde sie noch besser aufpassen.

      

      Um kurz vor 20:00 Uhr parkte John Sinclair den Wagen vor der Bibliothek der Universität in Kingsbury. Charissas Abendseminar war gerade zu Ende gegangen. Die vergangenen zwei Stunden hatte er in ihrer gemeinsamen Wohnung das Lieblingsessen seiner Frau vorbereitet: Zitronenhühnchen und Tomatensalat mit Fetakäse. Beim Bäcker hatte er sogar noch ein frisches Focaccia gekauft. Der Mittwoch war ein langer Tag für Charissa, darum versuchte John an diesem Tag immer etwas Besonderes für sie zu kochen.

      Während er sie beobachtete, wie sie auf den Wagen zukam, ließ er pfeifend die Luft entweichen. Selbst auf die Distanz war Charissa eine Schönheit: Ihre makellose olivfarbene Haut, ihre wohlgeformte Figur, ihre seidenweichen, pechschwarzen Haare – alles an Charissa war perfekt. Die Leute waren oft erstaunt, dass Charissa und John zusammengehörten. Mit seinem schütteren braunen Haar und den braunen Augen war er absolut unauffällig. Mittelgroß, mittelgewichtig, einfach totaler Durchschnitt. Charissa dagegen war eine Frau, nach der sich alle umdrehten. Es war nicht nur ihre klassische Schönheit, die Aufsehen erregte, sondern auch ihre Anmut und ihr Selbstvertrauen.

      Als John Charissa in ihrem zweiten Studienjahr an der Kingsbury kennengelernt hatte, hatten seine Freunde ihn gewarnt: „Die Eisprinzessin lässt niemanden an sich heran. Du hast keine Chance, John.“

      Doch John war kein Typ, der so leicht aufgab. Er hatte zwar keinen athletischen Körperbau, doch besaß er das Herz und die Entschlossenheit eines Olympioniken. Er war fest entschlossen, Charissa Goodman zum Lachen zu bringen, und irgendwann brachte Johns warmherziger Humor tatsächlich selbst die berüchtigte Eisprinzessin zum Schmelzen.

      Grinsend rief er durch das geöffnete Wagenfenster: „Hey, Schönheit! Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“ Charissa warf ihre Tasche auf den Rücksitz und glitt neben ihn auf den Beifahrersitz. „Wie wäre es mit einem Kuss für den Kerl, der dich liebt?“, fragte er und beugte sich zu ihr herüber.

      Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Entschuldige. Abgelenkt.“

      „Das merke ich. Was ist los?“

      „Erinnerst du dich noch an diesen Kurs, von dem ich erzählt habe? Den mit der geist­lichen Reise?“

      John nickte, während er nach links abbog. „Ja. Was hat Dr. Allen dazu gesagt? Ist es ungefährlich?“

      Sie lachte. „Er meinte, ich sei doch bereits von Häretikern umgeben.“

      „Cool! Ich würde gern mal ein paar kennenlernen! Wir könnten sie zum Essen einladen, nachdem wir nun endlich stolze Besitzer eines Tisches sind. Ich würde sogar kochen.“

      „Du kochst doch immer.“

      „Nun, wir müssen ja schließlich was essen. Hey! Autsch!“ Er grinste, als Charissa ihm spielerisch gegen den Arm boxte. „Es ist eben so, dass du andere Talente hast, Liebling. Große, intellektuelle Talente, zu schade für die Küche.“ Sie gab vor zu schmollen.

      „Also“, fuhr er fort, „lohnt es sich, dafür an zwei Samstagen im Monat einen Vormittag zu opfern? Und bevor du antwortest, denk daran, dass dieser Kurs in Konkurrenz steht zu meinen berühmten Schokoladenchips-Pfannkuchen.“

      „Ich weiß. Ich wäge die Kosten ab.“ Sie spielte mit ihren langen dunklen Haaren. „Auf jeden Fall hat Dr. Allen mich gefragt, warum ich daran teilnehmen möchte. Ich habe gesagt: ‚Um zu lernen.‘ Und er starrte mich mit seinen eindring­lichen Augen an und sagte: ‚Falsche Antwort.‘“

      „Meine