Sira Rabe

Gefangen


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aufzuzählen. Einer war besonders ausschlaggebend: es würde schnell verdientes Geld sein. Sie atmete tief durch. Wenn sie mit dem Erlebten nach dem ersten Mal klargekommen war, wieso sollte es ihr dann beim zweiten Mal schwerer fallen?

      Morgen Abend wäre günstig. Sabrina war wieder mal unterwegs nach Hongkong. Sie wäre ohnehin alleine, würde niemanden treffen. Noch immer unschlüssig nahm sie das Telefon in die Hand und wählte. Als sich am anderen Ende eine Frauenstimme meldete, legte sie erschrocken wieder auf. Fremde Männer. Entsetzlich. Will ich nun oder will ich nicht? Verdammt – ich habe mich doch schon entschieden! Warum bin ich nur so feige?

      Sie drückte die Wahlwiederholung und diesmal verlangte sie mit sicherer Stimme, Max Koos zu sprechen.

      Max hatte nicht mehr damit gerechnet, dass Delia sich jemals wieder melden würde. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Wenn es ihm gelang, sie für jeden Freitag und eventuell sogar Samstag zu engagieren, hätte er einen attraktiven Blickfang gewonnen. Mona würde ihr ein bisschen Stil beibringen müssen. Wie man sich weniger verkrampft bewegte und entgegenkommender auf die Männer einging. Er war überzeugt davon, dass Delia ein Naturtalent war und bald perfekt agieren würde. Und wer weiß, eines Tages würde sie vielleicht doch schwach werden. Sie war ein wenig einsam und es gab eine Menge interessanter Männer in seinem Etablissement, darunter sicherlich einige, die ihr gefallen könnten.

      Der Abend verlief vergleichsweise gut. Max hatte auf Anraten seiner Frau Mona Delia einen Saft mit ein paar Beruhigungstropfen gegeben, den er ihr zur Begrüßung reichte. Eine Zeit lang wirkten die Tropfen und gaben ihr die nötige Gelassenheit, die Bemerkungen und das Anfassen der Männer leichter hinzunehmen.

      Aber als die Wirkung nachließ, begann sie sich zu fragen, warum sie sich erneut darauf eingelassen hatte. Ansonsten geschah jedoch nichts Außergewöhnliches. Einige stiegen zu ihr aufs Podest, streichelten ihre Brüste, einer hob sogar ihren Schleier und rang ihren Lippen einen Kuss ab. Doch anders als beim ersten Mal fasste ihr keiner in den Schritt und plötzlich war die Zeit vorbei. Sie atmete erleichtert auf.

      Diesmal gelang es Max nach kurzer Argumentation, Delia zu einer Zusage für den nächsten Freitag zu bewegen. So wie er sie einschätzte, würde sie es möglicherweise bereuen, sobald sie zu Hause war, aus Ehrgefühl aber nicht anrufen, um ihre Zusage zu widerrufen. Er lächelte wissend. Manchmal war es eben hinderlich, anständig zu sein und sich an Versprechen zu halten. In diesem Fall ein Nachteil für Delia, aber zum Vorteil für ihn.

      Ehe Delia sich versah, verbrachte sie jede Freitagnacht in Max Koos’ Edelbordell. Zwar war sie die Stunden davor immer noch nervös, aber sie redete sich selbst ein, dass es ein harmloser und gut bezahlter Job war.

      Von zehn Uhr abends bis vier Uhr früh war sie der Blickfang. Nur für Samstag war sie nicht zu erwärmen, weil es einige Fernsehshows gab, die sie ungern versäumte.

      Manchmal kam Delia schon früher, und wenn die anderen Frauen nichts zu tun hatten, ergaben sich Gespräche, in denen Delia deren Lebensgeschichte erfuhr, wie sie zur Arbeit im Bordell gekommen waren, und sie wurde sich bewusst, wie gut es ihr in ihrem Bürojob und ihrem vermeintlich langweiligen Alltag ging.

      Der Ablauf im Haus war vollkommen durchorganisiert. Jede hatte ihre speziellen Techniken und ihre Stammkunden, die schon Wochen im Voraus ihre Termine festlegten. Außer Getränken war es auch möglich, kleine Snacks und Leckereien zu bestellen, denn zum festen Personal gehörte unter anderem ein Koch, und weil das Gebäude ursprünglich ein Hotel war, existierte auch noch die gut ausgestattete Küche, als Koos es bei einer Zwangsversteigerung erwarb.

      Jede Woche gab es einen neuen Speiseplan. Die Frauen legten fest, was sie essen wollten. Aber es wurde nicht nur gekocht, auf bestimmte Diäten oder Gewohnheiten Rücksicht genommen, sondern auch frische Salate und Obst eingekauft. Delia war überrascht, wie gut die Versorgung war. Für ihre Pausen wählte sie hauptsächlich leichte Speisen, um nicht zu ermüden oder den Bauch wie eine kleine Kugel vor sich herzuschieben. Außerdem war sie nach wie vor viel zu aufgeregt, um ein richtiges Essen hinunterzubringen.

      Mittlerweile kannte sie auch die Räumlichkeiten besser. Eigentlich war sie gar nicht scharf darauf gewesen, die Zimmer zu sehen. Eine natürliche Scheu hatte anfangs über ihre Neugierde gesiegt. Aber es hatte sich ergeben, als sie auf dem Weg zur Toilette war und die Türen von zwei unbelegten Zimmern offen standen.

      Bei dem Umbau vom Hotel zum Edelbordell hatte man die Zimmeraufteilung beibehalten, ebenso die eingebauten Badezimmer. Lediglich das Inventar war ausgetauscht und die Wände waren gestrichen worden. Delia musste zugeben, dass sie sich in einigen dieser Zimmer als Gast wohlgefühlt hätte.

      Zur unteren Etage fand sie dagegen keinen Zugang. Weder interessierten sie die Räumlichkeiten, von deren spezieller Ausstattung sie dann und wann etwas aufschnappte, was ihr die Haare aufstellte, noch lernte sie die Frauen, die ihrer Aufgabe als Dominas nachgingen, näher kennen. Sie kamen nur selten nach oben und unterhielten sich kaum mit den anderen Frauen.

      Allmählich gehörte dieser Freitagabendjob zu Delias Leben wie alles andere. Max hatte sich an ihre Abmachung gehalten und wimmelte die Anträge der Männer ab, die sie buchen wollten.

      Seltsamerweise kommentierte Sabrina nicht die Veränderung, die mit ihrer Freundin vor sich ging. Zum einen lag es wohl daran, dass sie kaum Zeit hatte und viel zu sehr mit ihrem neuen Freund, einem Chefsteward, beschäftigt war und meistens diejenige war, die plapperte, wenn sich die Freundinnen doch einmal trafen. Zum anderen hätte sie Delia in Verlegenheit gebracht und vielleicht diese Entwicklung, die sie mit einer gewissen Distanz beobachtete, gestört. Diese ungewohnte Ungezwungenheit, Lockerheit, das Vermögen, auch über Dinge zu lachen, die Delia früher eher peinlich erschienen waren – all das gefiel Sabrina. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wohin das noch führen sollte …

      Es geschah bei Delias drittem Einsatz. Sie hatte gerade ihre erste Pause hinter sich gebracht und wieder ihre Position eingenommen, als das untrügliche Gefühl beobachtet zu werden sie veranlasste, sich umzuschauen. Natürlich wurde sie sowieso die ganze Zeit betrachtet, deswegen stand sie schließlich auf dem Podest. Sie war der Blickfang. Aber es war anders. Als würde jemand ihren Namen rufen, ohne dass dies wirklich passierte. Nur in ihrem Kopf existierte diese Verbindung zwischen ihr und dieser Person. Ein nervöses Kribbeln, wie von tausenden Ameisen verursacht, setzte auf ihrer Kopfhaut ein, lief ihren Nacken herunter, überflutete ihren ganzen Körper und entlockte ihr beinahe ein sehnsüchtiges Aufstöhnen, ein kribbelndes Gefühl der Lust. War sie denn völlig verrückt geworden, oder lag es nur daran, dass ihr einziger männlicher Freund ein Vibrator war und sie endlich einmal wieder einen richtigen Mann spüren wollte – aber keinen von diesen, auf die zu Hause wahrscheinlich eine ahnungslose Ehefrau wartete!

      Dann entdeckte sie ihn. Er war gerade eingetreten und stand im Schatten einer der Säulen, die das Vordach der Bar trugen und diese optisch von der Halle trennten. Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie richtete sich ein wenig mehr auf, streckte unbewusst ihre halbnackten Brüste heraus, umklammerte fester die Stangen, an die sie angekettet war.

      Der Mann nahm seinen regennassen Hut herunter, strich mit einer lässigen Bewegung über die Krempe, schüttelte die Tropfen ab. Er fuhr sich mit den Fingern durch das kurz geschnittene Haar, das vom Hut ein wenig verdrückt war. Unter dem geöffneten Mantel wurde ein eleganter anthrazitgrauer Geschäftsanzug sichtbar, wie maßgeschneidert. Von der dezent gemusterten Krawatte über das seidig glänzende Hemd bis zu den Designerschuhen passte alles zusammen. Er war etwa eins fünfundachtzig groß, mit einem durchtrainierten, schlanken Körper, alles in allem gut aussehend, ein Bild von einem Traummann – wie aus einem Modemagazin. Nur ein wenig älter, reifer als die Models, die Delia von Abbildungen kannte, vielleicht Ende dreißig bis Anfang vierzig. Ein Mann im besten Alter, der die unbedarften Verrücktheiten der Jugend abgelegt und seinen beruflichen Weg gefunden hat.

      Schlanke, lange Finger, gepflegte Hände. Am Ringfinger der linken Hand funkelte ein roter Stein auf einem schmalen Platinring. Taxierend schaute er in die Runde, verschaffte sich einen Gesamtüberblick.

      Dann fixierte sein Blick Delia. Es war ihr, als würde sie durchbohrt werden. Selbstbewusstsein, Stolz und ein Hauch von Arroganz lagen in seiner Haltung. In einem anderen Leben wäre er ihr vermutlich als tapferer