schämst Dich nicht vor den kleinen Jungen, die mehr wissen als Du – Mensch, Mensch, was soll aus Dir werden?!« Herr Zehrenpfennig rang die Hände.
»Vater,« hatte der Karl ganz ruhig gesagt, »lass mich Seemann werden, ich will zur See.«
»Du – Du –«, der Herr Rechnungsrat schnappte nach Luft und lachte dann krampfhaft. »Du und Seefahrer? Natürlich! Bummler, Nichtstuer, Abenteurer – daraus wird nichts. Du machst die Schule durch und würdest Du dreißig darüber, und dann studierst Du und wirst, was ich geworden bin – verstanden?!«
»Nein, Vater,« – der Junge sah in dem Augenblicke merkwürdig erwachsen aus, »das kann ich nicht. Du magst sagen, was Du willst. Ich will und muss zur See.«
»Du –« dem Herrn Rechnungsrate versagte das Wort – eine schallende Ohrfeige brannte auf des Knaben Wange. – Mach, dass Du weg kommst und tritt mir nicht mehr unter die Augen!«
Es war nicht so schlimm gemeint gewesen, aber anderen Tages war der Junge fort und kam nicht wieder. Herr Rechnungsrat Zehnerpfennig grämte sich darüber zu Tode, die Frau Rätin saß manches Jahr in ihrem einsamen Witwenstübchen und weinte sich die Augen rot. Da kam eines Tages ein Brief mit seltsam ausländischem Poststempel, Kapstadt, der verlorene Sohn schrieb, reuig, liebevoll, unsäglich rührende Worte! Er hätte nicht schreiben wollen, so lange es ihm schlecht gegangen, nun gehe es ihm gut, er wünsche nur die Verzeihung der Eltern und würde dann bald kommen, sie zu besuchen.
O diese Freude, o dieser Schmerz! Aus wunderlich gemischtem Born quollen die Tränen der Mutter – ja, es ist ein eigenes Ding um das Mutterherz! Da liegen in der engen Kammer, wie Zwillingsgeschwister in einer Wiege, Zürnen und Vergeben, bitteres Gekränktsein – unendliche Liebesfülle! Die Mutter schrieb an den Sohn, sie nannte ihn ihr böses geliebtes Kind, und sie wartete auf sein Kommen. Das neue Frühjahr sollte ihn bringen, aber das alte Jahr mußte erst scheiden, und das nahm die gute Frau Rätin mit – so geht’s mit der Pflanze, die allzulang im Schatten gestanden, rückt man sie jäh in die Sonne, so welkt sie, sie verträgt das Licht nicht mehr. Auf dem Grabe der Frau Rätin blühten unterm Schnee die weißen Sterne der Christrose, die Nachbars Mariechen mit zitternden Händen und weinenden Augen dorthin getragen.
Nachbars Mariechen! Sie war der Sonnenstrahl im Leben der einsamen Frau gewesen, sie hatte Frische, Jugend, Heiterkeit in das Witwerstübchen gebracht, mit niemandem konnte die Mutter so gut von dem Verlorenen reden wie mit der kleinen Nachbarin. Die erinnerte sich des Kindheitsgespielen so genau, die erzählte laufend lustige Streiche, die sprach von der Tanzstunde und – von dem ersten Kusse – nein, von dem sagte sie doch nichts, sie neigte nur den Kopf tiefer und die blonden Locken fielen ihr über das rosige Gesicht.
* * *
Es war ein feuchter, helldunkler Märzabend, als Karl Zehrenpfennig nach Hause kam. Er stand unter den hohen Bäumen an dem hübschen Platze und starrte unbeweglich hinüber zu dem freundlichen Hause, hinter dessen Mauern nun andere Menschen wohnten, andere Herzen schlugen. Er war zu Hause und doch so fremd. Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Warum war er gekommen? Er würde nur die Gräber seiner Eltern finden, eine zierliche, klare Mädchenhand hatte ihm das geschrieben. »Mariechen!« Für einen Augenblick flog ein freundlicher Schein über das tiefernste Männergesicht, dann blickte es suchend umher – wo wohnte sie doch? Richtig, dort die benachbarte Tür mit dem blanken Messingknopfe, an dem seine Kinderhand täglich geläutet! Wie sehnsüchtig hatte der Bube oft das Öffnen erwartet und ungeduldig mit dem Stiefelabsatze gepocht! Auch jetzt ging die Tür, eine schlanke Mädchengestalt schritt die Stufen hinunter, sah prüfend umher und hüpfte dann mit leichtem Satze über den Rinnstein. Der Fremde trat näher, das blonde Gelock unter der braunen Pelzmütze schimmerte so seltsam bekannt. Er lüftete den Hut: »Fräulein Mariechen?!« – Sie schrak zusammen und sah ihn einen Augenblick starr an, glühendes Rot stieg in ihr Gesicht; dann schossen ihr plötzlich die Tränen in die Augen, sie streckte ihm mit einem kleinen Schrei beide Hände entgegen: »O mein Gott – bist D – sind Sie’s?!« Er ergriff diese Hände und drückte sie herzhaft. »Ja, Mariechen, ich bin’s, der alte Karl, kennen Sie mich denn noch?«
Ob ich Sie kenne –« Röte und Blässe wechselten auf den weichen Mädchenwangen, und dann huschte ein kleiner Schalk um den roten Mund – »Sie böser Weltumsegler!« Er seufzte schwer und drückte den breiten Filzhut tiefer in die sonnenverbrannte Stirn. »Alles ist hier anders geworden – o, meine Mutter – ich bin fremder wie in der fremdesten Fremde!«
»Sagen Sie das nicht –« bat sie leise und legte zutraulich ihre Hand in seinen Arm – »Sie sind nicht fremd, bei uns sind Sie zu Hause – – ich freue mich so!«
»Gutes Mariechen!« Er preßte ihren Arm fester an sich, und nun schritten sie langsam unter den hohen Bäumen auf und nieder, hin und her, wie unendlich viel war zu fragen, wie unendlich viel zu antworten! Eine Ewigkeit hätte nicht genügt. Die weiche Mädchenstimme klang wie ein Hauch durch das abendliche Dunkel, es lauschte sich so angenehm, so längst vertraut. Was lag alles in dieser Mädchenstimme – Heimat, Kindheit, erste Jugend, Vater, Mutterwort, alles – alles!
Aus den Fenstern der Häuser, jenseits der Straße, schimmerte Lampenlicht, die Leute aßen zur Nacht. Es war still auf Platz und Gasse, kein Wagen rasselte mehr, kaum hallte ein Fußtritt, nur feuchtwarmer Wind strich kosend durch die Wipfel der Bäume, daß die braunen, träumenden Knospen an den nackten Ästen zu schwellen schienen. Von der Kaserne herüber tönte der Zapfenstreich.
»Es ist schon spät,« Mariechen hielt plötzlich erschrocken inne – »o, wie habe ich mich versäumt! Aber nicht wahr, morgen kommen Sie zu uns?« sie sah in fragend an, »wahrhaftig ins Gott?«
»Wahrhaftig ins Gott!«, der Mann fuhr wie aus tiefem Sinnen auf.
»Und nun gut’ Nacht«, sprach sie weiter, »schlafen Sie wohl, das erste Mal in der alten Heimat, ich – ich – « ihre Stimme zitterte leicht – »ich werde an Sie denken – die ganze Nacht!«
Er faßte ihre Hand und hielt sie fest. »Kommen Sie, ich bringe Sie bis an Ihre Tür.«
Schweigend schritten sie unter den Bäumen vor, die Straße hinüber, da blinkte heller Laternenschein, zeigte das liebe Mädchenantlitz, das braune, ernste Männergesicht und – einen breiten, schwarzflutenden, unüberschreitbaren Rinnstein. Was war das?! Mariechen wies mit dem Finger hin und lächelte: »Grundwasser!« Und er lächelte auch: »Ja, Grundwasser – wissen Sie noch?« Sie neigte stumm den Kopf, und nun wanderten sie hin und her und suchten einen Übergang – umsonst, wie ein Bach strömte der Rinnstein. – Kein Brett noch gelegt – da hilft nichts! Mit keckem Satz schwingt sich der Mann hinüber, und nun steht er drüben auf dem Trottoirrand und streckt dem Mädchen die Hände entgegen: »Springen Sie!« halb springt sie, halb zieht er sie, sie gleitet aus, sie strauchelt – sie liegt an seiner Brust, fest von seinen Armen umschlungen. »Mariechen, weißt Du noch«, flüstert er leise in ihr Ohr, »Mariechen, bist Du mir denn noch gut?« Sie nickt heftig, dann hebt sie das Gesicht zu ihm auf und lächelt unter Tränen: »Ja, Karl, ich weiß noch, ich weiß alles – und wie wir in der Bütte fuhren –.«
»Jetzt fahren wir nicht mehr in der Bütte«, spricht er innig, zärtlich und küßt sie wieder und wieder, »jetzt fährst Du mit mir in die weite Welt – ja mein Mariechen?«
»Ich will sein, wo Du bist,« sagt sie einfach und legt die Hand auf seine Brust. »Dein Volk sei mein Volk. Dein Gott mein Gott!«
Der Nachtwind rauscht und der Rinnstein rauscht auch, er dehnt sich bedenklich in die Breite. Über den Trottoirrand plätschert schon das schwarze Wasser und schlägt über die Füße der beiden Menschen, die da stehen und sich umschlungen halten – Grundwasser – sie achten es nicht, über ihre Seele flutet ein anderes Wasser, das Hochwasser der Liebe.
Erklärungen:
Lohkuchen = wird mit Bauernbrotmehl gebacken. Der Belag besteht u.a. aus Kartoffeln und Schmand;
Puten = hier wohl eher als Schimpfwort gemeint (dumme Puten); Trottoir = Bürgersteig
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