Geburt gekannt. Sein Fenster liegt schräg gegenüber auf der andern Straßenseite, jenseits der Schienen der elektrischen Hochbahn. Und sie hat unter Eid ausgesagt, daß sie den Mord gesehen hat.
JUROR 8: Durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges.
JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen!
JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu?
JUROR 10: Ach Sie – Sie sind ein ganz geriebener Gauner …
JUROR 1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe!
JUROR 7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen!
JUROR 10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen –
JUROR 1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran?
…
JUROR 6: Ich weiß nicht … vorhin war ich ganz sicher, ich frage mich bloß … das Motiv ist schließlich die Hauptsache, denke ich. Wo es kein Motiv gibt, gibt’s auch keinen Fall. Oder? Das Motiv beschäftigt mich. Zum Beispiel die Aussage der Leute, die Flur an Flur mit dem Burschen wohnen … das hat mich immerhin überzeugt. Die sagten doch etwas von einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Jungen – so gegen sieben Uhr abends. Ich kann mich auch irren.
JUROR 11: Es war acht Uhr, nicht sieben.
JUROR 8: Ja, acht Uhr abends. Die Nachbarn hörten einen Streit, aber sie konnten nicht verstehen, worum es ging. Dann wollten sie auch noch gehört haben, daß der Vater den Jungen ins Gesicht schlug, zweimal, und zuletzt sahen sie den Jungen wütend die Wohnung verlassen. Was beweist das?
JUROR 6: Genaugenommen – nichts. Ich habe ja nicht gesagt, daß es was beweist. Aber es ist nicht alles –
JUROR 8: Sie haben gesagt, daß sich ein Motiv für den Mord daraus ergeben könnte. Genau wie der Staatsanwalt. Nur, ich habe den Eindruck, daß es kein sehr stichhaltiges Motiv ist. Der Junge ist so oft in seinem Leben geprügelt worden, daß Prügel sozusagen sein tägliches Brot waren. Es überzeugt mich nicht, daß ihn plötzlich zwei Ohrfeigen so reizen sollen, daß er deswegen gleich zum Mörder wird.
JUROR 4: Es können zwei zuviel gewesen sein. Bei jedem ist das Maß einmal voll.
(Rose, 1982, S. 17–26, für die deutsche Bühne dramatisiert von Horst Budjuhn)
2 Was ist Argumentation?
Dieses Kapitel führt grundlegende Begriffe ein, die in den folgenden Kapiteln aus der Perspektive verschiedener theoretischer Ansätze näher ausbuchstabiert und diskutiert werden. Zudem wird mit Wenzels Ansatz der drei Perspektiven auf Argumentation das Modell erläutert, an dem sich diese Einführung in die Argumentation orientiert.
2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs
2.1.1 Strittigkeit und Geltung
Wenn Menschen argumentieren, tauschen sie Gründe aus. Spezifisch für das BegründungshandelnBegründungshandeln in einem argumentativen Rahmen ist, dass hier Gründe eingefordert oder gegeben werden, weil etwas strittig geworden ist, d.h. die Geltung einer Aussage bestritten wird. Um von Argumentation zu sprechen, müssen also nicht nur Gründe gegeben (und genommen) werden; diese Gründe müssen sich auch auf einen strittigen Sachverhalt beziehen. Die meisten Ansätze zur Argumentation gehen davon aus, dass das Bestehen einer StreitfrageStreitfrage konstitutiv ist für Argumentation und dass Argumentation sich durch dieses Merkmal auch von anderen Formen des BegründungshandelnsBegründungshandeln wie ErklärenErklären-warum unterscheiden lässt. StrittigkeitStrittigkeit kann allerdings in verschiedenen Formen auftreten: Sie kann von den Argumentationspartnerinnen angenommen werden, ohne dass sie direkt geäußert wird, oder sie kann direkt hergestellt werden, wie im folgenden Beispiel. Hier begründet Juror 2 seine Position, dass der Angeklagte schuldig ist, und Juror 8 bestreitet die Geltung dieser Aussage.
JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste.
JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht.
JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen.
JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat –
Juror 2 begründet hier, warum er glaubt, dass der Angeklagte schuldig ist. Diese Begründung („einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht“) wird von Juror 8 nicht akzeptiert und er begründet auch, warum er sie nicht akzeptiert („Die Beweislast obliegt allein dem Gericht“). Juror 2 reagiert darauf mit einer etwas vagen Rücknahme seiner Aussage: Er nimmt sie implizit zurück („Jaja, das weiß ich schon“) und bietet eine andere Begründung an („Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat“).
Dieses Beispiel zeigt, dass unterschieden werden kann zwischen zwei Formen des Bestreitens. Zum einen kann die Aussage an sich bestritten werden, zum anderen die Geltung der Aussage in einem bestimmten Kontext. Juror 8 bestreitet nicht, dass niemand den Gegenbeweis angetreten hat, die Verteidigung konnte tatsächlich nicht beweisen, dass der Angeklagte unschuldig ist. Aber diese Aussage hat keine RelevanzRelevanz für die Fragestellung, ob die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei erwiesen ist, und kann daher keine Geltung beanspruchen, auch wenn die Aussage faktisch richtig ist.
Das Beispiel zeigt außerdem, dass innerhalb von Argumentation oft mehrere StreitfrageStreitfragen auf unterschiedlichen Ebenen behandelt werden. In dem kurzen Beispiel liegen mindestens zwei StreitfrageStreitfragen vor: Ist der Angeklagte schuldig oder nicht? Ist der Mangel an Gegenbeweisen ein guter Grund? Weil es häufig mehrere Streitfragen gibt, kann die Analyse von Argumentation sehr komplex werden (vgl. Kapitel 5).
Argumentation ist die Bearbeitung einer StreitfrageStreitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen.
Argumentation beruht aber nicht nur auf StrittigkeitStrittigkeit, sondern auch auf der Annahme von Übereinstimmung. Durch Argumentation wird StrittigkeitStrittigkeit bearbeitet, indem Aussagen – implizit und explizit – angeführt werden, von denen die Argumentationspartnerinnen1 annehmen, dass ihr Gegenüber diese akzeptiert oder akzeptieren muss/sollte. Damit beruhen Gründe auf Aussagen, die selbst nicht strittig sind, sondern als geltend angenommen werden. Im Beispiel ist dies der Verweis auf die Verfassung. Innerhalb von Argumentation wird also nicht nur deutlich, worüber es divergierende Ansichten gibt. Deutlich wird auch, was die Teilnehmerinnen einer Argumentation als gemeinsame Geltungsbasis ansehen. Diese Aussagen – die strittige und die geltende – befinden sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen: zum einen der Ebene dessen, was als Grund in Bezug auf die Streitfrage angegeben wird und zum anderen auf der Ebene des Übergangs vom Grund zur Konklusion. Dabei bleibt der Übergang vom Grund zur Konklusion oft implizit. Auch das lässt sich im Beispiel gut sehen: Juror 2 führt an, dass niemand einen Gegenbeweis geführt hat. Dies wird in der Runde nicht bestritten, kann also von da an als geteiltes Wissen dieser Teilnehmer angesehen werden. Implizit äußert Juror 2 aber auch, dass dies ein guter Grund dafür ist, dass der Angeklagte schuldig ist. Diese Aussage ließe sich in einer starken Form rekonstruieren als: Wer die eigene Position (Unschuld) nicht beweisen kann, muss die Position der Gegenseite übernehmen (Schuld). Auch diese Aussage wird von Juror 2 als potenziell geteiltes Wissen eingeführt, von Juror 8 aber explizit abgelehnt. Damit wird in der Argumentation nicht nur markiert, was strittig ist, sondern auch, was gilt. Argumentation hat also grundlegend nicht nur die Funktion StrittigkeitStrittigkeit/DissensDissens zu bearbeiten, sondern sie hat auch eine epistemischeArgumentationepistemische Funktion, also auf Wissen bezogene Dimension: Argumentation