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Weihnachtsschnaps
»Das Übliche«, sagte Nadine gelangweilt. »Zuerst die großen Worte, dann das große Fressen und am Ende das große Besäufnis.«
Gerrit Roolfs sah sie fragend an, und sie erklärte: »Zuerst hält Tammo Tjarksen immer seine Dankesrede, dass die ganze Firma wie eine Familie ist, eine große Familie, in der alle zusammenhalten und alle ihr Bestes geben. Und dann kommt das Festessen. Da lässt sich Tammo immer was einfallen. Diesmal gab es ein schwedisches Weihnachtsbüfett mit Weihnachtsschinken, Rentierfilet, Kartoffelklößen. Sogar Weihnachtsbrei war dabei. Kennen Sie das? Das ist ein Brei aus Milchreis mit einer Mandel …« Nadine sah ihn plötzlich mit großen Augen an.
»Und was geschah dann?«, fragte Roolfs.
»Dann kam das Besäufnis. Aber mit Stil, sage ich Ihnen. Skandinavischer Punsch, schwedisches Bier, Weihnachtsschnaps …«
»Weihnachtsschnaps?«
»Ja, herrlich süß. Schmeckt nach Bratapfel und Orange«, schwärmte Nadine. »Aber wenn man danach draußen an die kalte Luft kommt … hui!« Sie wedelte mit der rechten Hand und warf Roolfs einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Wann ging Tammo Tjarksen nach Hause? War er betrunken? Ging er allein?«
»Irgendwann so zwischen zwei und halb drei. Er war total besoffen. Wie immer. Er liebte es, sich im Kreis seiner Angestellten zu besaufen.«
»Schließlich ist Ihre Firma ja eine harmonische Familie«, bemerkte Roolfs.
»Werden Sie doch nicht gleich zynisch. Man wird ja wohl noch ein bisschen feiern dürfen. Ich habe ein Taxi für ihn gerufen, und er ist dann nach draußen gegangen, um auf das Taxi zu warten. Das hat er jedes Jahr so gemacht. Seine Frau und Klausi sind ja schon eher gefahren, wie immer.«
»Und Sie?«, fragte Gerrit Roolfs.
»Ich? Was soll das denn? Ich habe doch gar kein Motiv! Ich bin als eine der Letzten gegangen. Dafür gibt es Zeugen. Warum sollte ich Tammo überhaupt so etwas antun?«
»Und wer würde Tammo Tjarksen Ihrer Meinung nach so etwas antun?«
»Ich sagte vorhin schon, dass er nicht nur Freunde hatte. Er hat mir mal etwas von Drohbriefen erzählt. Das muss aber schon ein paar Jahre her sein. Mehr weiß ich auch nicht. Tammo machte mal so eine Bemerkung, und als ich nachfragte, wich er aus.«
»In Ordnung.« Gerrit erhob sich. »Das wär’s. Für’s Erste jedenfalls. Ich werde mich noch mal melden. Schreiben Sie mir eine Liste von allen, die auf der Feier dabei gewesen sind, und schreiben Sie dazu, wann wer gegangen ist – ungefähr. Ach ja, und geben Sie mir noch die Nummer vom Taxi-Unternehmen.«
Als Roolfs das Büro verließ, stieß er mit der dicken Angestellten im Jeanshemd zusammen, die vor der Tür gestanden hatte.
»Oh, Tschulligung, Herr Kommissar«, sagte sie verlegen. »Ich muss da nur eben durch und die Lichterketten einsortieren. Wollen Sie auch eine?« Sie steckte ihm eine Lichterkette mit Schneemännern aus Kunststoff in die Manteltasche. »Schöne Weihnachten!«
Schneeweiß
Wolfgang Hinrichsen, Tjarksens Prokurist, wohnte in einer Siedlung, die in den neunziger Jahren entstanden war. Auf den knapp bemessenen Grundstücken nahmen sich die Häuser aus, als wären sie etwas zu groß gewachsen und würden mit den Nachbarhäusern wetteifern, wer die aufwändigsten Wintergärten, die originellsten Erker und die stilvollsten Wetterfahnen hatte.
Gerrit Roolfs parkte sein Auto bei einem Spielplatz. Zwei Männer saßen auf der Bank. Ihre mit Zigarettenqualm vermischten Atemwolken stiegen wie Sprechblasen über ihnen auf. Sie tranken Bier aus Dosen und sahen den Kindern beim Spielen zu.
In Hinrichsens Einfahrt stand ein schneeweißer Mercedes mit dem Hufeisen am Kühlergrill, das genauso wenig fehlen durfte wie das metallene Wandbild vom pflügenden Bauern neben dem Hauseingang und die bemalte Dachpfanne vor der Haustür.
»Moin, Herr Roolfs!« Ein großer, schlanker Mann im Jogginganzug stand in der Durchgangstür zwischen Haus und Garage. »Kommen Sie man hier lang. Ich habe hier hinten mein kleines Reich.«
Gerrit Roolfs folgte Hinrichsen in ein Holzhaus im Garten und setzte sich in einen der drei Korbsessel.
»Ich weiß genau, was Sie mich fragen wollen«, sagte Hinrichsen. »Wie ich das im Winter in so einem Holzhaus aushalte und ob ich Tammo Tjarksen auf dem Gewissen habe. Die Antworten lauten: Das Holzhaus hat eine super Isolierung, viel besser als die meisten richtigen Häuser. Da muss ich den Garten nicht gleich mitheizen. Und Tammo Tjarksen habe ich nicht ermordet. Ich profitiere auch nicht von seinem Tod. Ich war bei Tammo der zweite Mann, und bei Klausi und Renate werde ich es auch bleiben. Ich bin der geborene zweite Mann. Auf dieser Position spiele ich am besten. Tasse Kaffee?« Hinrichsen schwenkte eine Thermoskanne.
»Ja, mit viel Milch bitte«, entgegnete Roolfs. »Sie werden jetzt eine deutlich stärkere Position in der Firma haben, als Einziger mit Durchblick.«
»Ach, der Klausi, der braucht vielleicht noch ein paar Jahre, und dann wird er das besser machen als sein Vater. Wir werden gut miteinander auskommen, so wie ich mit Tammo eigentlich auch ganz gut klargekommen bin. In den letzten Jahren habe ich sowieso die wichtigen Entscheidungen getroffen, Tammo hat vor allem Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Aber damit hat er dem Unternehmen nicht nur Vorteile gebracht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Und mit Renate Tjarksen kommen Sie auch gut aus?«
Wolfgang Hinrichsen lachte. »Besonders gut, Herr Hauptkommissar. Renate und ich sind uns nicht gerade unsympathisch. Ab und zu fahren wir auch mal ein Wochenende weg, aber das hat Tammo gewusst.«
»Und nun steht er Ihnen nicht mehr im Weg«, provozierte Roolfs, dem Hinrichsens selbstgefällige Art langsam auf die Nerven ging.
»Das tat er auch vorher nicht. Es lief alles super. Es war so eine Art agreement unter guten Freunden.« Hinrichsen war anscheinend nicht aus der Form zu bringen.
Gerrit Roolfs hatte sich angewöhnt, besonders wachsam zu sein, wenn menschliche Beziehungen mit dem Wort ›super‹ beschrieben wurden. »Was heißt ›super‹, Herr Hinrichsen?«
Hinrichsen schmunzelt vielsagend. »Wir verstanden uns ganz wunderbar.«
Richtig nett
Plötzlich packte Gerrit Roolfs die Wut. »Sagt mal, für wie blöd haltet ihr mich eigentlich?«, brüllte er Hinrichsen an. »Der Chef macht mit seiner Angestellten rum, die fast fünfzig Jahre jünger als er ist, seine Frau fährt mit dem Geschäftsführer in den Urlaub, sein Sohn wohnt mit über vierzig Jahren noch bei Mama und Papa. Der andere Sohn hat den Kontakt zur Familie abgebrochen, weil er sich als erwachsener Mann nicht mehr von Papi durchprügeln lässt. Und alles ist super und harmonisch. Alle sind wie die nette Familie von nebenan aus der Vorabendserie. Und zum ersten Advent wird Mister Christmas über den Haufen geschossen und auf dem Marktplatz aufgehängt. Superharmonisch mit Weihnachtsbeleuchtung. Ich will jetzt wissen, was hier los ist!«
Wolfgang Hinrichsen wurde verlegen. »Aber das ist doch normal, Herr Hauptkommissar. Es funktionierte irgendwie.«
»Nein! Es funktionierte eben nicht, verdammt noch mal!« Gerrit Roolfs schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Tammo Tjarksen wurde ermordet. Er wurde nicht ausgeraubt. Irgendjemand hat ihn dermaßen gehasst, dass er ihn nicht nur ermordet, sondern ihn in seinem Tod auch noch lächerlich gemacht hat. Wer?«
Wie versteinert saß Hinrichsen in seinem Korbsessel. Seine Hände umklammerten die Lehnen. »Ich weiß es wirklich nicht. Mit Renate hatte er eine Vereinbarung. Die Vereinbarung schloss mich ein. Tammo war viel zu sehr von sich überzeugt, als dass er mich als Konkurrenz gesehen hätte. Mit Nadine hat er geflirtet, aber mehr lief da sicher nicht. Sie hat einen festen Freund. Und Klaus würde so etwas nie tun. Es ist ja sein Vater.«
»Das ist ja so richtig nett.« Gerrit Roolfs konnte kaum an sich halten. »Können Sie mich nicht adoptieren? Ich möchte