schaute genauer hin. Was er bei flüchtigem Hinsehen für eine Kollegin gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine als Polizistin kostümierte Schaufensterpuppe. Krimi-Christiansen und seine Leute hatten offenbar eine merkwürdige Auffassung von Humor.
»Na schön«, sagte der Hauptkommissar, »jetzt weiß ich also, wieso die Puppe hier tatenlos rumlungert. Aber warum tut ihr das auch?«
»Na hör mal!« Rieken spielte den Beleidigten. »Wir erfüllen hier eine wichtige dienstliche Aufgabe! Und das mit der gebotenen Akribie.«
»Aha. Was du im Sitzen kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, was? Könnte mir vorstellen, dass ihr anderswo dringender gebraucht würdet.«
»Tja, kann sein. Aber dienstliche Anweisung ist dienstliche Anweisung, nicht wahr?« Van Dieken schob sein Cola-Glas vorsichtig außer Sichtweite. Ob da wohl wirklich nur braune Zuckerbrause drin gewesen war? Stahnke war sich nicht sicher.
»Anweisung? Von mir aber nicht«, erwiderte er.
»Nee, aber vom Kollegen Kramer!« Rieken warf sich in die schmale Brust. »Er sagte ausdrücklich, dass mit dem Herrn Christiansen heute Abend noch gesprochen werden müsste.« Er deutete mit dem Daumen auf die Schiebetür, hinter deren Scheiben der Umriss eines sitzenden dicken Mannes zu erkennen war, beide Ellenbogen auf einen Tisch gestützt, ein langstieliges Glas vor sich.
Stahnke stemmte die Fäuste in die Seiten: »Und jetzt passt ihr auf, dass der Tatzeuge nicht flüchtet, oder was? Zwei Mann hoch, also echt! Mann, Mann!«
»Ja genau, Mann und Mann«, sagte van Dieken und blinzelte betont unschuldig. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. Der Typ da hat die Leiche gefunden, sagt er – das weißt du doch auch, dass diese Finder manchmal in Wahrheit selber die Täter sind!«
»Und zwei Mann sind nicht zu viel«, ergänzte Rieken. »Hast du gesehen, der Herr ist ganz schön groß! Und er hat Gewicht!«
Der Hauptkommissar holte tief Luft. »Wie du vielleicht gesehen hast, trifft beides auch auf mich zu«, knurrte er. »Und wenn ihr mir nicht bald diese Tür hier aufmacht, dann komme ich über euch! Und danach nichts wie weg hier, verstanden? Ich übernehme.«
Rieken und van Dieken fassten übertrieben schwungvoll nach den Türgriffen rechts und links, deuteten je eine Verbeugung an und zogen zeitgleich. Eine schöne Parodie von devoten Subalternen – wäre es geworden, wenn die linke Tür nicht gehakt und Rieken beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Stahnke trat ein. Hinter ihm rumpelten die Türen wieder zu.
Christiansen hob den Kopf. So vorgebeugt und aufgestützt wirkte er unglaublich massig, fand Stahnke. Wie alt mochte er sein, an die sechzig vielleicht? Dafür war seine Mähne noch ziemlich dicht. Aber eindeutig grau; die paar Farbpigmente, die sich in einigen Strähnen noch finden mochten, reichten nicht mehr aus, um noch den Gesamteindruck von Blond entstehen zu lassen. Friedhofsblond, das ja. Der Kinnbart war schon völlig weiß.
Als er dem Buchhändler in die Augen schaute, fühlte er sich wie bei einem Blick in den Spiegel: wasserblau und hellwach, genau wie seine eigenen! Aber damit erschöpfte sich die Ähnlichkeit auch, fand der Hauptkommissar und straffte sich. Er war nicht nur jünger als dieser Typ, er war auch fitter – inzwischen. Und vor allem sah er ordentlicher aus. Wer trug denn bloß in diesem Alter noch so lange Zotteln?
Der Clubraum mochte etwa fünfundzwanzig Gästen Platz bieten; bis auf Christiansen war er leer. Stahnke ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder, an dem der Buchhändler saß. »Guten Abend«, sagte er und nickte seinem Gegenüber zu. »Ich würde gerne mit Ihnen reden. Wäre das in Ordnung?«
»Natürlich. Natürlich.« Christiansen richtete seinen Oberkörper auf und strich sich die Haare aus der Stirn. »Möchten Sie etwas trinken? Ich lasse Ihnen gern etwas bringen. Wein vielleicht, oder ein Bier?«
»Vielen Dank, lieber nicht.« Der Hauptkommissar musterte das halbvolle Glas des Buchhändlers, der gleichzeitig Restaurantbesitzer und Vermieter war. »Wie viel hatten Sie denn schon? Ich meine, auf diesen Schock?«
»Ich? Das hier ist mein erstes Glas.« Der Buchhändler verschränkte seine Arme. »Wissen Sie, manchmal trinke ich ja ganz gerne, um den Geist zu beflügeln. Oder ihn zu beruhigen, das kommt auch vor. Aber jetzt … Alkohol verstärkt die Gefühle, nicht wahr. Und die, die ich momentan habe, die müssen wirklich nicht noch stärker werden. Darauf kann ich gut verzichten.«
Stahnke runzelte die Stirn. Was redet der für ein wirres Zeug, dachte er; klingt, als sei der doch schon blau. Andererseits artikuliert er sauber. Wie auch immer, wir werden sehen.
»Erzählen Sie doch mal«, begann er unverfänglich. »Wie haben Sie den Tatort vorgefunden? Und wie kam es überhaupt dazu, dass Sie die Mietwohnung betreten haben?«
»Freiwillig jedenfalls nicht«, sagte Christiansen. Er berichtete, wie er mit dem Fahrrad eingetroffen und von seinem Nachbarn abgefangen worden war, welche Vorwürfe Terveer erhoben hatte, dass die Haustür nur angelehnt gewesen war. Wie er nach seinem Mieter gesucht und gerufen und ihn schließlich tot vorgefunden hatte, an die Heizung gefesselt, in einem See aus Blut.
Erzählen kann er gut, dachte Stahnke. Das macht wohl der viele Umgang mit Büchern. Während Christiansen sprach, hatte sich der Hauptkommissar den Hergang der Ereignisse in plastischen Bildern vorstellen können, ja müssen, bis der kleine Film in seinem Kopf bruchlos in die Szene mündete, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Hatte sehen müssen.
»Haben Sie eine Idee, was genau da oben vorgefallen ist?« Stahnke wies mit einer Kopfbewegung zur Decke. »Wer Ihren Mieter umgebracht hat? Und warum?«
»Ich wollte, ich könnte«, sagte der Buchhändler. »Was man sich erklären kann, das kann einen nicht mehr so beherrschen, richtig? Aber für das da oben … nein, wirklich nicht.«
»Was wissen Sie denn überhaupt über Ihren Mieter, den Herrn Jaschinsky?«
»Er war Borussia-Dortmund-Fan.« Christiansen lachte auf, kurz und bitter. »Kriegte immer so ein Fan-Magazin, das steckte oft in meiner Post, und ich hab’s ihm auf die Treppe gelegt. Und jedes Mal, wenn Dortmund international gespielt hat, war da oben Remmi-Demmi. Die müssen wohl Sky abonniert haben oder einen anderen Sportkanal. Anschließend war meistens Fete, richtig laut, mit viel Hip-Hop und so. Mein Nachbar, der Herr Terveer, hat sich mehr als einmal deswegen beschwert.«
»So so, Borussia Dortmund.« Stahnke mochte Fußball durchaus, aber jede Form von Fan-Kultur war ihm fremd. Fan kam von Fanatismus, damit war für ihn alles gesagt. »Und was hat der junge Mann so, äh, gearbeitet? Ich meine, von irgendwas musste er doch die Miete bezahlen, oder?«
»Die Miete kam immer pünktlich.« Christiansen zuckte die Achseln. »Jaschinsky war Student an der Seefahrtschule, keine Ahnung, ob er Bafög bezogen hat oder Geld von seinen Eltern bekam. Am Hungertuch genagt hat er jedenfalls nicht. Er hat sich öfter mal Essen ins Haus bestellt, und so ein Motorrad kostet ja auch Geld.«
»Motorrad? Was für ein Motorrad?« Der Hauptkommissar konnte sich nicht erinnern, vor oder hinter dem Haus eins gesehen zu haben.
»So eine Rennmaschine. Das heißt, nicht wirklich zum Rennen fahren, also keine mit Vollverkleidung und so. Mehr so ein Café-Racer, aber mit einem gewaltigen Motor. Mit solch einem Ding ist man im Nu von null auf hundert, aber ab hundertsechzig kann man sich kaum noch darauf halten.«
»Verstehe.« Stahnke nickte. Interessant, wovon dieser Mensch so alles etwas versteht, dachte er. Ob er das wohl auch aus Büchern hat? Jedenfalls konnte er Christiansens Beschreibung eindeutig entnehmen, dass es sich nicht um eine Einzylinder-Enduro handelte. Wäre ja auch zu einfach gewesen: Jaschinsky schießt vom Motorrad aus auf Oliver Eickhoff, der holt sich Verstärkung und rächt sich blutig … Welchen Grund aber hätte Jaschinsky haben können, auf den kleinen Eickhoff zu schießen?
Der Hauptkommissar wusste selbst, dass er zu wilden Spekulationen neigte, und riss sich am Riemen. »Meine Kollegen würden dieses Motorrad gerne näher betrachten«, sagte er dennoch. »Wissen Sie, wo es abgestellt ist?«
Der Buchhändler