»Und was ist mit den anderen Mietern? Außer dem Toten haben wir keinen von denen oben vorgefunden, und die anderen Zimmer machten auch keinen bewohnten Eindruck.«
»Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Wochen auch keinen Überblick hatte, wer da oben nun eigentlich wohnt oder nicht«, erwiderte Christiansen. »Ursprünglich bestand die WG ja mal aus vier Mitgliedern – drei junge Männer, eine Frau. Später kam noch eine zweite Frau dazu. Das fand ich etwas viel, ich meine, so viele Zimmer sind es ja nun auch nicht, und das riesige Wohnzimmer wollten natürlich alle gemeinsam nutzen. Aber es war ja ein Pärchen dabei, das sich ein Schlafzimmer teilte, und alle meinten, das sei schon okay. Also habe ich zugestimmt.«
»Seit wann wohnt die WG denn dort oben?«
»Ich müsste den Mietvertrag mal raussuchen … aber ich schätze, unterzeichnet haben wir den vor etwas mehr als einem Jahr. Fünfzehn Monate, über den Daumen.«
»Ja, den Vertrag hätte ich in der Tat gerne«, sagte Stahnke. »Allein schon wegen der Namen. Oder haben Sie die alle im Kopf?«
»Leider nein.« Christiansen schien verlegen zu sein. »Überhaupt habe ich mich wohl etwas zu wenig um die Zustände da oben gekümmert. Aber, wissen Sie, man hat ja doch allerhand um die Ohren, mit Laden und Lokal und den ewigen Reparaturen an diesem alten Haus. Und dann wollen wir demnächst eine Filiale aufmachen …«
»Verstehe. Andere Dinge waren wichtiger, solange die Miete pünktlich bezahlt wurde, richtig?«
»Richtig.« Christiansen griff nach seinem Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck; seine Wangen hatten sich gerötet. »Möchten Sie wirklich nichts?«
»Na ja, vielleicht … haben Sie alkoholfreies Bier? Weizen?«
»Aber selbstverständlich.« Christiansen streckte den Arm aus und betätigte einen an der Wand befestigten Klingelknopf. »Unsere neueste Errungenschaft! Dieser Raum liegt ja etwas abseits, da wurden Gäste manchmal übersehen. Jetzt können sie sich ganz einfach bemerkbar machen.«
Die Serviererin, der Stahnke vorhin schon in den Arm gefallen war, erschien und nahm die Bestellung entgegen. Offenbar hatte sie inzwischen erfahren, wer er war, denn sie musterte ihn mit großen Augen. Zu fragen aber traute sie sich nicht.
»Die eine der beiden jungen Frauen ist schon vor einer Weile ausgezogen«, nahm der Buchhändler den Faden wieder auf. »Hatte sich wohl mit ihrem Freund verkracht. Die anderen vier WG-Mitglieder haben ihren Mietanteil mit übernommen, und dabei ist es dann geblieben, bis heute. Ich bin mir zwar sicher, dass zwischenzeitlich noch die eine oder andere Person dort oben genächtigt hat, ich meine, auch für einen längeren Zeitraum. Aber das wurde nie offiziell gemacht.«
»Und wann begann denn nun der große Exodus da oben?«
»Kurz nach den Sommerferien«, sagte Christiansen und lächelte. »Ich orientiere mich immer noch an den Schulferienzeiten. Wissen Sie, meine Frau unterrichtet ein paar Stunden an einer Grundschule, so zur Sicherheit, denn ein Buchladen ist heutzutage ja schon so etwas wie eine bedrohte Art, nicht wahr? Von wegen E-Books und Onlinehandel und so.«
»Klar.« Stahnke nickte. »Aber Sie planen trotzdem, eine neue Filiale aufzumachen. Ist das denn unternehmerisch klug gedacht?«
Christiansen breitete seine Arme aus, und Stahnke stellte fest, dass der Mann eine beachtliche Spannweite hatte. »Ist es, denke ich«, sagte der Buchhändler und nickte sich selber Mut zu. »Weil ich finde, dass wir ein sehr gutes Konzept haben. Buchladen mit Krimi-Schwerpunkt, im Restaurant und Café alles auf Krimi abgestellt, dazu viele Events, die Literatur und Genuss zusammenbringen – das kommt an, bei den Touristen wie beim Stammpublikum. Und weil man das in einer kleinen Stadt wie Leer nur einmal machen kann, müssen wir einfach expandieren! Wenn wir das nicht tun, kommt jemand anderes, klaut uns unsere Idee und macht es selbst.«
Der Hauptkommissar musterte sein Gegenüber: Ziemlich dick, nicht mehr jung, mit dem Habitus eines ergrauten Achtundsechzigers – konnte das ein innovativer Erfolgsunternehmer sein? Aber wie auch immer, seine Sorge war das ja nicht.
Das alkoholfreie Weizen wurde serviert, und Stahnke trank mit plötzlich erwachtem Durst. Schmeckte richtig gut, fand er; den Alkohol vermisste man überhaupt nicht. Irgendeiner seiner Kollegen schwor doch auf diese Sorte – wer war das noch? Richtig, der kleine Nidal, genauer gesagt Oberkommissar Ekinci. Apropos …
»War Frederik Jaschinsky eigentlich schon zum Islam konvertiert, als er hier eingezogen ist?«, fragte der Hauptkommissar. »Oder kam das erst später?«
»Jaschinsky soll Moslem gewesen sein?« Christiansen machte große Augen. »Nicht, dass ich wüsste. Und wenn, dann kein hundertprozentiger. Bei seinen Fußball-Partys wurde jedenfalls immer reichlich Alkohol getrunken. Vielmehr gesoffen. Jaschinsky immer vorneweg.«
Stahnke nickte. Er wusste zwar, dass es unter Moslems umstritten war, ob nun jedweder Alkohol vom Koran verboten wurde oder nur dessen übermäßiger Genuss, aber in diesem letzten Punkt waren sich doch alle einig. Betrinken durfte sich ein gläubiger Moslem nicht, und es schien festzustehen, dass Jaschinsky genau das regelmäßig getan hatte. Galten nicht Konvertiten als besonders streng in der Befolgung religiöser Regeln? Logisch. Es ergab ja auch keinen Sinn, sich einen neuen Glauben zuzulegen, nur um dessen Gebote gleich mal zu ignorieren.
Aber zurück zum Naheliegenden, rief sich der Hauptkommissar zur Ordnung. »Den Mietvertrag bewahren Sie doch sicher in Ihrem Büro auf. Könnten Sie mir den vielleicht gleich mal holen? Oder eine Kopie?«
»Leider nein. Vermietungsangelegenheiten habe ich gesondert abgelegt, und zwar bei mir zu Hause. Dort habe ich noch ein zweites Büro.« Er lächelte entschuldigend: »Schon aus steuerlichen Gründen. Aber wenn Sie darauf bestehen, fahre ich gleich mal rüber und hole den Vertrag.«
Stahnke zögerte kurz, dann nickte er. »Am besten bringen Sie ihn gleich in die Georgstraße, ja? Geben Sie ihn einfach unten an der Wache ab.« Wenn sie fertig waren, gab es auf jeden Fall noch eine Besprechung, wie er Manninga kannte. Der Erste Kriminaldirektor hatte die Leitung der Ermittlung persönlich übernommen, und Stahnke wusste noch nicht einmal, wen er alles in die Mordkommission berufen hatte. Nur, dass Kramer und er dabei waren, und darauf kam es ihm an.
Christiansen leerte sein Weinglas und erhob sich. »Eine ganz neue Erfahrung für mich«, bemerkte er. »Sonst lese ich ja bloß über Kriminalfälle und verkaufe Bücher, die davon handeln. Manchmal schreibe ich auch selber ein bisschen darüber. Aber dass ich jetzt selbst mitten in einem Fall drinstecke – wer hätte das gedacht!«
»Tja, wer hätte das gedacht«, echote Stahnke und bemühte sich, sein Desinteresse an Kriminalliteratur nicht allzu deutlich durchschimmern zu lassen. »Genau genommen ja in zwei Fällen, nicht wahr? Erst der Schuss auf Oliver Eickhoff und jetzt dieser Mord.«
»Zwei Fälle?« Der Buchhändler stand schon an der Schiebetür. »Sie glauben nicht, dass beides miteinander zu tun hat?« Er verharrte kurz; als aber eine Antwort ausblieb, hob er grüßend die Hand und verließ den Raum.
Der ist gut, dachte Stahnke. Als ob das so klar wäre! Nur wegen der räumlichen Nähe, und weil die beiden Opfer sich angeblich kannten …
Zugegeben, das war nicht von der Hand zu weisen.
Das Lokal hatte sich in der Zwischenzeit deutlich geleert, ein Teil der Gäste aber hielt nach wie vor die Stellung, obwohl die Öffnungszeit längst überschritten war. Worauf die wohl warteten?
Draußen auf der dunklen Terrasse saß nur noch eine einzige Person, eingehüllt in einen olivgrünen Parka, und rauchte. Erst auf den zweiten Blick erkannte Stahnke, dass es die Buchhändlerin war. »Na, ist es nicht schon zu kalt zum Draußensitzen?«, fragte er und kam sich dabei reichlich onkelhaft vor.
»Ach was.« Die junge Frau rauchte hingebungsvoll und fixierte ihn wieder mit ihren weit geöffneten Augen. »Außerdem ist es hier draußen gerade viel spannender als drinnen.« Sie zeigte auf die Gasse, die am Vorderhaus vorbei zur Rathausstraße führte und die sie von ihrem Platz aus gut überblicken konnte.
Stahnke trat