Peter Gerdes

Ostfriesische Verhältnisse


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zerschnitten und zerprügelt worden war, hatte ein tiefer Schnitt durch die Kehle der Sache ein Ende gemacht. Entsprechend ausgedehnt war die Blutpfütze auf dem Fußboden, in deren Mitte der Tote saß, die Beine ausgestreckt, die Hände ins eigene Blut herabhängend. Offenbar hatte er noch eine Weile gezuckt, während die Pfütze an den Rändern schon zu gerinnen begann. Spuren davon waren deutlich zu erkennen. Ein weiteres grausiges Detail in diesem Szenario des Schreckens.

      »Todeszeitpunkt?«, fragte Stahnke, als Mergner wieder einmal an ihm vorbeihastete. Den üblichen bösen Blick ob der Unziemlichkeit dieser verfrühten Frage steckte er regungslos weg.

      »Zwischen drei und vier Uhr heute früh. Aber nageln Sie mich nicht drauf fest«, knurrte der Gerichtsmediziner und hastete weiter.

      »Das deckt sich mit der Aussage des Nachbarn«, sagte Kramer. »Der will letzte Nacht Geschrei und laute Musik gehört haben, stundenlang. Genau weiß er nicht, wann der Lärm aufgehört hat, aber seine Vermutung lautet auch gegen vier Uhr.«

      Heute früh also; inzwischen war es Abend. Der Tote hatte demnach den ganzen Tag über hier gelegen. Beziehungsweise gesessen oder gehangen, wie auch immer. Und er, Stahnke, hatte dort unten gesessen, im Buchladen, direkt unterhalb dieses Wohnzimmers, hatte hochgeblickt und die fetten Dachbalken bewundert.

      Der Hauptkommissar wandte sich an einen Kriminaltechniker, der auf dem Parkett kniete und Fußspuren vermaß. »Schon etwas Verwertbares?«, fragte er.

      »Normal groß«, erwiderte der Mann. »Jedenfalls der eine. Vermutlich Größe dreiundvierzig. Stiefel, mäßig profiliert, kaum abgetragen.«

      »Springerstiefel?«, fragte Kramer. Stahnke hob die Augenbrauen.

      Der Techniker schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, die haben ein völlig anderes Profil. Ansonsten können das alle möglichen Stiefel gewesen sein. Muss ich abgleichen, aber das dauert ein bisschen.«

      »Wie viele verschiedene Fußspuren habt ihr denn?«, fragte Stahnke weiter.

      »Zwei, definitiv. Die anderen Abdrücke scheinen kleiner zu sein, sind aber sehr verwischt. Da kann ich noch gar nichts zu sagen.«

      Der Hauptkommissar bedankte sich mit einem Nicken. »Zwei Täter also«, murmelte er.

      »Wenn nicht mehr«, warf Kramer ein. »Überleg mal, dieser Jaschinsky war ein ganz schöner Brocken. Und dann zwei Typen mit Schuhgröße dreiundvierzig und kleiner? Klingt mir untermaßig. Und damit zu riskant.«

      »Aber zwei untermaßige Typen mit vorgehaltener Schusswaffe?«

      Kramer wiegte den Kopf. »Und warum dann die Kampfspuren in der Küche? Das hätte dann doch wohl eine Schusswunde ergeben müssen. Oder einen Einschuss in der Decke oder der Wand.«

      Stahnke war nicht überzeugt. »Wenn es wirklich drei oder mehr waren, wo sind dann die Spuren des Dritten?«

      »Vielleicht war dieser Dritte ja etwas cleverer als die beiden anderen und hat besser aufgepasst.«

      Stahnke winkte ab: »Das führt doch zu nichts. Zwei oder drei Täter – die Frage ist doch: Was ist das hier? Ein Racheakt? Eine Hinrichtung?«

      »Irgendwer wollte irgendetwas wissen«, sagte Kramer. »Oder etwas haben. Daher die Folter. Sie haben aber nicht bekommen, was sie wollten. Was immer es war, eine Information oder eine Sache – Jaschinksy muss es unheimlich wichtig gewesen sein.«

      »Oder er hatte es einfach nicht.« Der Hauptkommissar zuckte mit den Schultern. »Das Ding oder die Info. Und das haben ihm die anderen nicht glauben wollen.«

      Die beiden Ermittler schwiegen. Stahnke versuchte sich den Ablauf des Geschehens vorzustellen, versuchte dem Stand der Dinge eine Vorgeschichte und den möglichen Tätern Statur und Gesicht zu geben. Es wollte ihm nicht gelingen. Vor allem die Dauer der Tortur, die das Opfer erlitten hatte, machte ihm zu schaffen. Wenn einer unter Qualen nichts sagte, wenn er nichts herausgab, dann hörte man doch irgendwann einmal damit auf, ihn zu foltern, oder?

      »Bestialisch«, zischte Kramer vor sich hin, gerade noch hörbar. Seine Gedanken schienen ähnliche Wege gegangen zu sein. »Wer macht so was? Crackheads? Meth-Monster?«

      Wie aufs Stichwort tauchte Kollege Schmatze-Schmitz auf. Seine pure Anwesenheit ließ selbst das riesige WG-Wohnzimmer schrumpfen. »Der Drogenhund ist durch. Keine Spur von Dope in der ganzen Wohnung«, meldete der Oberkommissar, der seine erschreckend aufgepumpte Muskulatur gewöhnlich in der Emder Außenstelle der Inspektion zur Schau trug, wo er sich seinen Spitznamen mit dem ständigen Verzehr von klebrigem Lakritzkonfekt erworben hatte. »Nur im Treppenhaus, vor der Tür zur hinteren Wohnung, hat unsere Lucy kurz angeschlagen. Angeblich sollen da die Künstler übernachten, die unten im Laden auftreten. Was meint ihr – Durchsuchung beantragen?«

      »Lass mal, Schmitz«, erwiderte Stahnke. »Eins nach dem anderen. Wir haben hier erst einmal genug zu tun.«

      Der Koloss nickte, dann grinste er verschmitzt. »Dafür haben wir etwas anderes gefunden«, verkündete er und brachte eine große Dose zum Vorschein, die sich unter seinem Arm befunden hatte und damit so gut wie versteckt gewesen war. »Hier, guckt mal!«

      »Kaffeepulver?« Das Format der Dose kam dem Hauptkommissar bekannt vor, nicht aber der Aufdruck.

      Schmatze-Schmitz lachte schallend. »Von wegen! Das ist Protein-Konzentrat. Das macht nicht nur wach, sondern auch stark. In dem Schlafzimmer gleich nebenan ist der halbe Wandschrank voll davon.«

      »Das Schlafzimmer des Opfers?«, mutmaßte Stahnke.

      Schmitz nickte. »Wir haben natürlich alle Zimmer durchsucht; niemand anwesend, und wie es aussieht, sind alle anderen WG-Mitglieder wohl ausgezogen, teilweise überstürzt, unter Zurücklassung von allerhand Krempel. Was wir in dem mittleren Zimmer, das als einziges einen bewohnten Eindruck macht, an persönlichen Dingen gefunden haben, legt den Schluss zwingend nahe, dass Jaschinsky dort hauste. Na, und dass er dieses Zeug konsumiert hat, lässt sein Äußeres ebenfalls zwingend vermuten.« Der Koloss fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Ich meine natürlich seine entwickelte Muskulatur. Nicht das, äh, die … na den Rest eben.«

      »Ist das das gleiche Zeug, das du auch nimmst?«, fragte Kramer.

      Stahnke warf ihm einen tadelnden Seitenblick zu. Was hatte denn das jetzt mit ihrem Fall zu tun?

      Schmatze-Schmitz schüttelte den Kopf. »Das ist Ost-Ware. Hier, guck mal, Aufdruck in kyrillischen Buchstaben! Das Zeug würde ich nur mit der Zange anfassen. Da sind bestimmt nicht nur Proteine aus Weidemolke von glücklichen Kühen drin! Frau Anna lässt grüßen.« Er grinste breit: »Anna Bolika, ihr versteht?«

      »Also doch eine Art von Drogen?«, fragte Stahnke, ohne auf den Scherz einzugehen.

      »Nicht wirklich.« Schmitz winkte ab; auch seine Pranke war riesig. »Die Einnahme ist nicht illegal. Jedenfalls nicht, solange man nachher nicht zu sportlichen Wettkämpfen antritt. Wäre ein gefundenes Fressen für jeden Dopingfahnder.«

      »Wie auch immer«, gab Stahnke zurück, »bring das Zeug auf jeden Fall ins Labor.«

      »Ihr steht hier wohl gut, was?« Einer der weiß gekleideten Techniker zwängte sich mit vorwurfsvoller Miene an ihnen vorbei. Stahnke hob entschuldigend die Hände, nickte Schmitz zu und gab Kramer einen Wink. Zusammen mit seinem Kollegen zog er sich in einen weiteren Korridor zurück, der ganz hinten vom übergroßen Wohnzimmer abzweigte.

      Der Hauptkommissar brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Suchend blickte er sich um. Konnte es sein, dass sich dieser Korridor wie ein Ring durch die ganze Wohnung zog? Wenn man die Wegstücke mitrechnete, die durch Küche und Wohnzimmer führten, dann war das tatsächlich so. Welcher hirnrissige Architekt plante denn so was?

      »Dieses Haus ist etliche Male umgebaut worden«, erläuterte Kramer, der Stahnkes Ratlosigkeit richtig gedeutet hatte. »Jeder neue Besitzer wollte hier seine Vorstellungen umsetzen, und die passten grundsätzlich nicht zu denen seiner Vorgänger. So ist denn auch diese Gruft hier entstanden.« Er deutete auf die Tür des Schlafzimmers, das einmal Frederik Jaschinskys gewesen