kurz, gab sich dann aber einen Ruck. Dies war ja schließlich keine Mordermittlung!
»Kramer? Ist Eickhoff senior schon da?«
»Allerdings.« Der Oberkommissar klang genervt. »Seit einer Viertelstunde schon. Wartet nebenan. Wenn man das warten nennen kann! Alle zwei Minuten steht er bei mir auf der Matte.«
»Dann behalte ihn das nächste Mal einfach da«, sagte Stahnke. »Übernimm du doch Eickhoffs Befragung, ja? Ich bin hier in der Altstadt zugange. Dafür brauche ich noch ein bisschen.«
»Wofür? Etwa Kaffee trinken im Taraxacum?« Kramer klang gereizt. »Was soll ich den Typen überhaupt fragen?«
»Lass dir was einfallen. Du kennst den Fall doch ebenso gut wie ich.« Oder ebenso schlecht, setzte der Hauptkommissar in Gedanken hinzu. Dann schnippte er mit den Fingern. »Und übrigens, Tarax stimmt, aber von wegen Kaffee! Der Laden gehört doch neuerdings diesem Christiansen, du weißt schon, dem Obelix von Asterix. Die beiden haben bekanntlich zusammen die Tat beobachtet, mehr oder weniger. Also, Christiansen muss ich auch noch befragen.«
»So.« Kramer war ein Meister der Untertöne, der jedermann der faulen Ausrede bezichtigen konnte, ohne dass es nachweisbar gewesen wäre. »Neuerdings ist übrigens stark untertrieben, Christiansen gehört das Haus schon seit drei Jahren. Und übrigens, was ist mit der WG? Wenn schon, dann kannst du dir die ja auch gleich vorknöpfen.«
»WG? Was für eine WG?« Stahnke hatte die Frage kaum gestellt, da fiel es ihm wieder ein. »Ach so, die anrüchige Wohngemeinschaft, in der der junge Eickhoff verkehrt haben soll.« Er richtete seinen Blick zur Decke. Jenseits der fetten Balken mussten sie hausen, die wilden Gesellen, die auf den jungen Mann aus reichem Hause solch eine Anziehungskraft ausübten. Vor allem wohl die Gesellinnen. »Na klar, ein Besuch da oben steht auch auf meiner Agenda.«
Der Hauptkommissar beäugte die Deckenbalken noch einmal gründlich: Nein, sie bogen sich nicht. So sehr er auch log.
Kramer holte Luft, kam aber nicht mehr dazu, eine weitere Spitze abzufeuern. Eickhoff seniors laut polternde Stimme fuhr ihm dazwischen. Offenbar stand der mal wieder auf Kramers Matte.
»Na denn, viel Erfolg!«, säuselte der Hauptkommissar und beendete eilig das Gespräch.
Draußen vor dem Fenster quietschten Reifen. Der Fahrer eines tiefergelegten BMWs hatte es offenbar auch sehr eilig. Während der Wagen laut röhrend um die Kurve driftete, erhaschte Stahnke den flüchtigen Eindruck eines jungen, unbewegten Männergesichts hinter der Frontscheibe. Das einzig Lebendige an diesem Gesicht schien die große, verspiegelte Sonnenbrille zu sein, in deren Gläsern sich die Hausfassade krümmte.
Ein Grüppchen kleiner, braunhäutiger Männer wäre dem Kamikaze-Piloten beinahe vor den Spoiler gelaufen. Im letzten Moment hatten sie am Bordstein gestoppt und schimpften dem Raser jetzt hinterher. Touristen, schätzte Stahnke. Bis vor kurzem hätte er sie trotz der umgehängten Kameras noch für Seeleute gehalten, die an einem Rettungslehrgang auf der Emssturm teilnahmen. Das langjährige Ausbildungsschiff aber hatte inzwischen den Leeraner Hafen verlassen. Die Handelsschifffahrt steckte in der Krise, wieder einmal. Da rechnete sich derartige Ausbildung nicht mehr.
Dahlmanns Worte fielen Stahnke wieder ein. So, Eickhoffs jüngerer Bruder war also Reeder? Na, da hatte der wohl aufs falsche Pferd gesetzt. Auf ihn musste der Kaufmann also nicht mehr lange eifersüchtig sein.
Vor ein paar Tagen hatte in der Zeitung gestanden, was mit der alten Emssturm geschehen sollte. Angeblich wurde sie in die Türkei geschleppt, zum Abwracken. Schade drum! Das mehr als fünfundsiebzig Meter lange ehemalige Fischereiforschungsschiff mit seiner hoch aufragenden Back hatte dem Hafen von Leer rein optisch gut zu Gesicht gestanden.
»Noch einen Kaffee?« Wieder stand die Buchhändlerin so unvermittelt neben ihm wie aus den braunen Fliesen gewachsen.
»Nein danke, aber Sie könnten mir vielleicht eine Frage beantworten«, erwiderte Stahnke, der diesmal nicht zusammengezuckt war.
»Aber gerne, wenn ich kann.« Die junge Frau verschränkte ihre Finger und hob erwartungsvoll die Brauen, den Blick ihrer weit aufgerissenen Augen fest an ihren Gast geheftet.
Was soll das, dachte der Hauptkommissar irritiert, will die mich veräppeln? »Ich würde gerne Ihren Chef sprechen, den Herrn Christiansen«, sagte er. »Ist er vielleicht im Büro?«
»Nein, tut mir leid.« Auch ihr bedauernder Tonfall schrammte hart an der Parodie vorbei. »Herr Christiansen ist vor einer Stunde nach Aurich gefahren. Wir erwarten ihn erst kurz vor Ladenschluss zurück. Die Kasse macht er ja immer gerne selber.« Sie legte eine Hand auf ihren Mund, als wollte sie diese halb vertrauliche Information noch im Nachhinein am Entfleuchen hindern.
»Das ist bedauerlich. Nach Aurich, ja?« Sollte er nach dem Grund fragen? Noch hatte er sich ja nicht einmal vorgestellt.
»Er schaut sich dort Immobilien an. Möglicherweise will er demnächst eine Filiale aufmachen.« Wieder legte sie ihre schlanken Finger an die Lippen: »Das muss nicht unbedingt jeder wissen, jedenfalls noch nicht. Aber Sie sagen das ja sicher nicht weiter, nicht wahr, Herr Kommissar?«
So so, sie wusste also, wer er war! War er in Leer etwa schon derart bekannt? Unwillkürlich glitt sein Blick von ihrem Gesicht über Finger und Hand auf das blaue Tattoo auf ihrem Unterarm. Jetzt zuckte er doch ein wenig zusammen, denn die gehörnte Fratze sah unglaublich diabolisch aus, direkt unheimlich. Auf einem schmalen Banner darunter stand etwas geschrieben. Etwa ein Fluch?
Sie nahm die Hand herunter, ehe Stahnke die Worte entziffern konnte. »Soll ich Herrn Christiansen vielleicht etwas bestellen, wenn er wieder zurück ist?«
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Danke, nicht nötig, ich rufe ihn dann selbst an. Aber sagen Sie, die Wohnung dort oben, da wohnen doch mehrere junge Leute – ob ich dort vielleicht jemanden antreffen kann?«
Ihre Augen wurden schmal. »Keine Ahnung«, versetzte sie knapp. »Letzte Nacht ist dort wohl jemand zu Hause gewesen, wie ich hörte, aber jetzt – das weiß ich nicht.«
»Wie Sie hörten? Von wem denn?«
»Von einem Krimi-Autor, der gestern Abend hier im Laden eine Lesung abgehalten hat. So was machen wir öfter mal, auch kleine Konzerte. Die Künstler übernachten dann immer in der kleinen Wohnung, die nach hinten raus geht und ansonsten leer steht. Als der Autor heute Vormittag abgereist ist, meinte er, vorne sei wohl mächtig Party gewesen letzte Nacht. Erst weit nach Mitternacht habe er schlafen können, und selbst dann habe er noch geträumt, jemand hätte ihm auf dem Kopf herumgetrampelt.«
»So wild, ja?« Da wäre der kleine Oliver Eickhoff bestimmt gerne dabei gewesen, setzte Stahnke in Gedanken hinzu. Typisch Bürgertum, nach außen immer etepetete, aber dann das Verdrängte umso wilder ausleben! Schade für ihn, dass ihn der Zustand seines Hinterteils vom Mitfeiern abgehalten hatte.
Wieder flog die Ladentür auf; die Altstadt hatte sich deutlich belebt, die Kunden gaben sich die Klinke in die Hand. Die Buchhändlerin machte eine Geste des Bedauerns: »Ich glaube, ich werde gebraucht. Wenn ich dann nichts mehr für Sie tun kann …«
»Danke, alles klar.« Der Hauptkommissar entließ sie mit einem freundlichen Nicken. Schon war die junge Frau Richtung Kassentresen verschwunden.
Stahnke erhob sich, trug seine leere Tasse nach hinten ins Restaurant, wo noch mehr Betrieb herrschte als vorne im Laden, zahlte und verließ das Gebäude durch die Seitentür, die hinaus auf die Terrasse führte. Die Oktobersonne war inzwischen hinter den Wolken und dem klotzigen Rathausneubau zum Vorschein gekommen und bestrahlte die Außentische, von denen viele besetzt waren, obwohl es eigentlich schon zu frisch war, um draußen zu sitzen.
Eine schmale Gasse verband die Terrasse mit der Rathausstraße; dorthin wandte sich der Hauptkommissar, denn da, etwa auf halber Strecke, lag auch der Eingang zur vorderen Wohnung über dem Tatort Taraxacum. Unter der Klingel hing ein Pappschild mit den Namen der Bewohner. Ursprünglich mochten es vier oder fünf gewesen sein. Seither aber waren mehrere durchgestrichen und andere, teils kaum leserlich, dazugekritzelt worden, so dass schwer zu erkennen war, wer hier aktuell eigentlich