Anette Hinrichs

Die fünfte Jahreszeit


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Beamte sofort sympathisch gewesen, und sie hatten an jenem Abend noch lange und angeregt über den Vortrag diskutiert. Sie war überrascht und erfreut gewesen, als sie ihn unter ihren neuen Kollegen erkannte, doch in der Mordkommission hatte er sich ihr gegenüber bislang eher reserviert verhalten.

      Malin sah zum Torbogen, wo die Leiche gerade von zwei Beamten abgenommen wurde. »Der Tatort wirkt, als hätte der Täter ein Bühnenbild inszeniert.« Kurz flackerte eine Erinnerung auf, doch bevor sie den Gedanken greifen konnte, war der Moment auch schon wieder vorbei.

      »Das Gleiche habe ich auch gedacht«, erwiderte Bartels stirnrunzelnd.

      Kriminalhauptkommissar Fricke verabschiedete sich gerade von einer attraktiven Blondine, die in ihrer linken Hand eine Arzttasche hielt. Dann wandte er sich seinen beiden Mitarbeitern zu. »Dr. Steinhofer ist gerade mit der vorläufigen Untersuchung fertig. Allerdings konnte sie noch nicht viel sagen. Außer den Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken weist die Leiche anscheinend keine weiteren äußeren Verletzungen auf. Fest steht allerdings, dass der Mann schon tot war, bevor er aufgehängt wurde. Für alles Weitere müssen wir wohl oder übel die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Verdammt, womit haben wir es hier zu tun? Fred, was meinst du?«

      »Ich weiß es nicht, Hans. Aber es spricht alles dafür, dass der Tatort gezielt ausgesucht wurde. Fragt sich nur, warum.«

      Malin räusperte sich. »Vielleicht will uns der Täter etwas mitteilen und hat irgendeinen Hinweis hinterlassen. Irgendetwas, das wir bisher vielleicht noch nicht gefunden oder auch übersehen haben.«

      Fricke betrachtete sie abschätzig und schien seine Worte mit Bedacht zu wählen. »Frau Brodersen, ich bin sehr dankbar für Ihren Hinweis. Wie Sie sehen können, wird der Tatort bereits abgesucht.« Er wies mit weit ausholender Geste auf das Treiben um sie herum. »Mein Team und ich machen das nicht zum ersten Mal.«

      »Manchmal ist es aber auch von Vorteil, wenn ein wenig frischer Wind durch einige Arbeitsabläufe weht.« Herausfordernd funkelte Malin ihren Vorgesetzten an.

      Fricke wandte sich an Bartels. »Fred, du fängst an, in den umliegenden Häusern nach Zeugen zu suchen. Vielleicht hat jemand etwas mitbekommen. Und nimm unsere verehrte Frau Brodersen mit. Wir treffen uns dann später zur Besprechung im Präsidium.« Ohne Malin eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ging auf einen der Kriminaltechniker zu.

      »Es fehlt nur noch, dass du Schaum vor dem Mund bekommst«, sagte Bartels, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Mensch, Malin, reiß dich zusammen. Denkst du, der Chef lässt sich von einer Anfängerin bloßstellen?«

      »Ich habe es einfach langsam satt, die Tippmieze der Abteilung zu sein. Dafür hab ich nicht studiert!«

      »Genau, und deshalb lässt du am besten mal nicht immer dein Jurastudium so raushängen. Und außerdem: Was meinst du denn, warum Fricke dich zum Tatort bestellt hat? Wenn ich dir mal einen Tipp geben darf: Beobachte ihn und hör ihm zu. Er ist der Beste in seinem Job.«

      Malins Wut war schon wieder verflogen. »Da bin ich dann wohl übers Ziel hinausgeschossen«, stellte sie zerknirscht fest.

      »Mach dir darüber keinen Kopf. – Weißt du etwas über das Torhaus?«

      Malin nickte. »Es diente früher als Pferdestall und als Wohnstätte für die Bediensteten des Herrenhauses, des ehemaligen Gutes Wellingsbüttel. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde es um 1750 erbaut. Heute stehen die Gebäude unter Denkmalschutz.«

      Bartels pfiff durch die Zähne. »Woher weißt du das alles?«

      »Der Vorteil einer humanistischen Erziehung«, erwiderte Malin trocken.

      »Aha.« Bartels warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Dann lass uns mal mit dem Klinkenputzen beginnen.«

      Es war bereits später Nachmittag, als sich das Team zur Besprechung im Präsidium einfand.

      Malins Magen knurrte. Sie fischte eine zerknitterte Papiertüte aus ihrer Tasche und zog ein Franzbrötchen heraus. Mit wenigen Bissen war das Gebäck verzehrt, und Malin schaute enttäuscht in die leere Tüte.

      »Und wenn du noch so lange hineinstarrst: Es werden nicht mehr. Sag mal, isst du eigentlich auch mal etwas anderes als dieses süße Zeugs?«

      Malin sah in die wasserblauen Augen ihres Kollegen Ole Tiedemann, ein schlaksiger Kerl mit sandfarbenem Haar und blasser, fast durchscheinender Haut. Mit seiner sachlichen und zurückhaltenden Art bildete er den Ruhepol der Abteilung.

      Schnell beförderte sie die Tüte in den Papierkorb. »Jeder hat so seine Laster«, murmelte sie verlegen, doch der Kollege blätterte bereits wieder in seinem Notizblock.

      Die Tür öffnete sich, und Hauptkommissar Fricke trat in das Großraumbüro, dicht gefolgt von Frank Glaser, dem Leiter der Spurensicherung, und einem kräftigen Mann mit rötlichem Schnäuzer und finsterem Blick. Bartels erhob sich und schlug dem Unbekannten freundschaftlich auf die Schulter.

      Fricke ergriff als Erster das Wort. »Wie ihr seht, konnte ich Sven überreden, einen Tag eher aus dem Urlaub zurückzukommen. So wie die Dinge liegen, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Also, fangen wir an. Was habt ihr rausgekriegt, Fred?«

      »Wir haben die Anwohner der umliegenden Häuser, das Personal und die Bewohner der Seniorenresidenz und auch die vom Café befragt.« Bartels zuckte die Schultern. »Leider liegt die Erfolgsquote bisher bei null. Niemand konnte auch nur einen entfernt nützlichen Hinweis geben.«

      »Dann erweitert den Umkreis. Wurden die Parkplätze schon überprüft? Vielleicht ist der Täter mit dem Wagen gekommen.«

      »Einige Leute sind noch vor Ort und durchkämmen das Gelände.«

      »Sind schon irgendwelche Spuren ausgewertet worden, Frank?« Fricke wandte sich dem hageren Kriminaltechniker zu, der neben Tiedemanns Schreibtisch lehnte und die Arme vor der Brust verschränkt hielt.

      »Wir sind noch dabei«, gab der wortkarg zur Antwort.

      »Gar nichts?«, hakte Fricke nach.

      »Wir haben Fußabdrücke am Eingang zum Torbogen gefunden. Unbrauchbar wegen des strukturierten Bodens. Trotzdem interessant.« Glasers verkniffener Gesichtsausdruck verzog sich zu einem grimmigen Lächeln.

      »Inwiefern? Meinst du, sie stammen vom Täter?«

      »Eben nicht. Der Mörder hat die ganze Bodenfläche des Torbogens vermutlich mit einem Besen gesäubert. Ich glaube kaum, dass er hinterher zurückgekommen ist, um seine Fußabdrücke zu hinterlassen.«

      »Könnten die von einem unserer Leute stammen?«, fragte Bartels.

      Glaser schüttelte den Kopf und rückte dabei seine kleine, runde Brille zurecht. »Die Kollegen von der Streife haben umgehend gesichert.«

      »Weitere Abdrücke?«, hakte Fricke nach.

      »Wenn welche da waren, hat der Regen der letzten Nacht sie weggespült«, erwiderte Glaser.

      »Wenn die Spuren also nicht vom Mörder stammen, dann haben wir vielleicht einen Zeugen. Und derjenige hat nicht die Polizei benachrichtigt.« Fricke strich sich nachdenklich übers Kinn.

      »Wissen wir schon, um wen es sich bei dem Toten handelt?«, fragte Tiedeman.

      Fricke schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, aber die Identifizierung der Leiche steht für uns an erster Stelle. Ole, darum kümmerst du dich. Sprich mal mit den Kollegen von 4.17, die sollen alle Vermisstenanzeigen der letzten Zeit durchgehen.« Er runzelte die Stirn. »Bisher sind unsere Fakten mehr als dürftig. Morgen früh bekomme ich die vorläufigen Berichte der Rechtsmedizin und aus dem Labor. Bis dahin erledigt ihr die zugeteilten Aufgaben. Irgendwelche Fragen?«

      Malin räusperte sich. »Ich bin ja noch nicht lange dabei, trotzdem scheint es mir, als hätten wir es nicht gerade mit einem alltäglichen Mord zu tun. Wir haben bisher noch nicht über das mögliche Motiv des Täters gesprochen.«

      Fricke fuhr sich bedächtigt übers Kinn. »Sie haben recht, Brodersen, das bereitet