Anette Hinrichs

Die fünfte Jahreszeit


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Wochen ergangen?«

      »Ach, so weit ganz gut, auch wenn meine alten Knochen nicht mehr ganz so wollen.« Alma rührte die Suppe um. »Mmh, wie das duftet!«

      Charlotte lief das Wasser im Mund zusammen. »Ich decke schon mal den Tisch. Du bleibst doch zum Essen?«

      »Gerne, dann können wir noch ein bisschen plauschen.« Ein Strahlen überzog Almas rosiges Gesicht und ihre haselnussbraunen Augen sahen Charlotte liebevoll an.

      Es war spät geworden, als Alma sich vom Küchentisch erhob, um sich auf den kurzen Heimweg zu machen. Es behagte Charlotte gar nicht, die alte Frau alleine in die Dunkelheit zu schicken, aber wie immer lehnte Alma ihr Angebot, ein Taxi zu rufen, brüsk ab.

      »Wer sollte denn eine so alte Frau wie mich überfallen? Bei mir gibt es doch nichts zu holen. Ihr jungen Dinger solltet euch schon eher Sorgen machen.« Ohne Widerspruch zu dulden, griff sie nach ihrem Regencape.

      Charlotte gab sich geschlagen. »Aber ruf an, wenn du zu Hause bist«, rief sie ihr hinterher.

      Keine zwei Minuten später läutete das Telefon. Komisch, dachte Charlotte, Alma konnte doch unmöglich in dieser kurzen Zeit zu Hause eingetroffen sein. Sie griff nach dem Hörer und nannte ihren Namen. Eine fremde Stimme.

      Kurz lauschte sie dem Anrufer, dann legte sie verwirrt auf. Schon wieder, dachte sie. Das war bereits das zweite Mal. Sie überlegte einen Moment und wählte dann die Nummer der Kriminalpolizei Kiel.

      5

      Sie hatte versucht, es so lange wie möglich hinauszuzögern, doch allmählich waren ihr die Ausreden ausgegangen.

      Verdammt, dachte Malin. Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Der Sonntag war ihr erster freier Tag seit einer Woche und sie war auf dem Weg zum wöchentlichen Familien­essen. Ausgerechnet heute war ihr Mini nicht angesprungen. Schlecht gelaunt hatte sie sich auf den Weg zur U-Bahn gemacht. Die hatte nun aufgrund einer Signalstörung fünf­undzwanzig Minuten Verspätung. Und das, wo Malin sowieso schon zu spät dran war.

      Kurz entschlossen verließ sie den Bahnsteig und steuerte den nächsten Taxistand an. Ein Wagen wartete bereits mit laufendem Motor auf Kundschaft. Knoblauchgestank drang ihr aus dem Wageninneren entgegen, trotzdem glitt sie auf die Ledersitze und nannte dem Fahrer die Adresse in Harvestehude. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.

      Seit zwei Tagen traten sie bei den Ermittlungen auf der Stelle. Sie hatten alle Verwandten, Freunde und Nachbarn von Dr. Woy befragt, Alibis überprüft und Zeugen vernommen. Nichts. Niemand schien etwas zu wissen oder auch nur ansatzweise ein Tatmotiv zu haben. Allem Anschein nach war Dr. Woy ein angesehener und unbescholtener Bürger gewesen, den alle gemocht und geschätzt hatten. Und dennoch hatte ihn jemand ermordet.

      Am Harvestehuder Weg bezahlte sie den Fahrer und blieb kurz am Straßenrand stehen, um die Aussicht zu genießen. Hinter gepflegten Parkanlagen und der langen Ufer­promenade schimmerte die Außenalster und zeigte Hamburgs schönste Seite.

      Malin wandte sich um und ging die paar Meter zur Auffahrt. Die weiße Jugendstilvilla mit dem parkähnlichen Garten befand sich seit Generationen im Familienbesitz. Malins Mutter war Constanze Heidenberg, Haupt­gesellschafterin der Heidenberg-Bank, eines hanseatischen Privatunternehmens, das seit fast anderthalb Jahrhunderten existierte.

      Malin versuchte, das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das sie jedes Mal befiel, wenn sie vor dem Haus ihrer Kindheit stand. Sie atmete tief durch und wollte gerade klingeln, als die Tür von innen weit aufgerissen wurde. Gewöhnt an den Anblick eines Dienstmädchens, sah Malin überrascht in das sommersprossige Gesicht von Marie Heidenberg, der Frau ihres Cousins Maximilian.

      »Hi, Malin – akademisches Viertel?« Marie lächelte.

      »Bin ich die Letzte?«

      »Nein, Max ist noch in der Bank. Wie immer.«

      Sie traten in einen getäfelten und üppig bestuckten Raum, der von allen nur der Salon genannt wurde. Eine blonde, gertenschlanke Frau kam ihnen entgegen und schaute missbilligend auf die Uhr. Constanze Heidenberg trug einen dunkelblauen Hosenanzug, kombiniert mit einer weißen Bluse und einer einreihigen Perlenkette. Das honigblonde Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gesteckt.

      »Du bist zu spät.«

      »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Malin trocken.

      »Nun gut, dann können wir ja endlich beginnen. Geht ihr schon mal ins Esszimmer, ich sage schnell der Köchin Bescheid.«

      »Was ist mit dem Dienstmädchen passiert?«, flüsterte Malin Marie zu, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte.

      »Hat gekündigt.«

      Sie grinsten sich an und betraten das Esszimmer, einen länglichen Raum mit blassgrünen Wänden und bis zum Boden eingelassenen Fenstern. Der sechs Meter lange Mahagoni­tisch war mit weißem Porzellan und Silberbesteck eingedeckt.

      »Erzähl doch mal, wie steht es an der Verbrecherfront?«, fragte Marie neugierig, nachdem die drei Frauen am Esstisch Platz genommen hatten.

      »Das ist wohl kaum das richtige Gesprächsthema beim Essen.« Constanze Heidenberg widmete sich ihrem Vor­speisen­teller mit gedünsteter Seezunge.

      Malin räusperte sich. »Im Moment ermittle ich in einem Mordfall. Ihr habt bestimmt schon in der Zeitung davon gelesen – ein bekannter Kinderarzt. Wurde im Wellingsbütteler Torhaus aufgehängt gefunden.«

      Mit einem lauten Klirren ließ Constanze Heidenberg ihr Fischbesteck auf den Rand ihres Porzellantellers fallen. »Malin­, ich verbitte mir jedes weiteres Wort darüber. Reicht es nicht, dass du der Bank den Rücken gekehrt hast? Müssen wir uns jetzt auch noch die Einzelheiten dieses – Berufes anhören?«

      »Mutter, ich lasse mir hier nicht das Wort verbieten. Es tut mir leid, wenn ich deine Erwartungen nicht erfüllt habe, aber ich habe getan, was ich für richtig hielt. Und vielleicht würdest du es auch verstehen, wenn du nicht immer jedes Gespräch darüber verweigern würdest.«

      Constanze Heidenbergs Blick wurde hart. »Du bist wie dein Vater, Malin. Auch er wollte weder unseren Familiennamen noch unsere Bank.«

      »Lass Vater aus dem Spiel!« Malin hatte ihren Teller von sich geschoben und erhob sich von ihrem Stuhl.

      Es herrschte betretenes Schweigen. Constanze Heidenberg war bei Malins Worten aschfahl geworden. Wortlos nahm sie ihr Besteck wieder zu Hand und fuhr mit dem Essen fort.

      Marie schaute von der Mutter zur Tochter. »Ist es denn nicht möglich, dass ihr beide ein einziges Mal an einem Tisch sitzt, ohne euch gleich in die Haare zu kriegen? Malin, bitte setz dich wieder. Und du, Constanze, es hat doch keinen Sinn, immer wieder auf diesem Thema herumzureiten.« Maries Augen funkelten.

      Zögernd setzte sich Malin. Nach einer Weile begann Constanze ein belangloses Gespräch über eine neue Kunstausstellung.

      Froh, der angespannten Atmosphäre zu entkommen, verabschiedete sich Malin nach dem Dessert. Sie beschloss, zum Jungfernstieg zu gehen. Von dort aus konnte sie dann die U-Bahn nehmen. Nach wenigen Minuten hatte sie die Uferpromenade erreicht. Trotz des ungemütlichen Wetters kamen ihr zahlreiche Spaziergänger entgegen. Malin schaute zu einem Paar, das eng umschlungen auf einer der Parkbänke saß. Wehmütig wandte sie sich ab. Sie musste an Ben denken, den Mann, den sie drei Monate zuvor aus ihrem Leben geworfen hatte. Ben mit seinen strahlenden Augen und dem umwerfenden Lachen.

      Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt. Malin hatte sich mit einem Cocktail durch die Menge gedrängt und war ins Stolpern geraten. Der gesamte Inhalt des Glases hatte sich über Bens hellen und, wie sie erst später erfuhr, nagelneuen Kaschmirpul­lover ergossen. Mit hochrotem Kopf hatte sie vor ihm gestanden und nur noch zusammenhanglose Worte gestammelt. Und dann hatte er gelacht – schallend gelacht, bis ihm die Tränen kamen. Seit dem Abend waren sie ein Paar gewesen und Malin hatte das Gefühl gehabt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Bis er eines Tages von ihrer Freundin Suse in inniger Umarmung mit einer rassigen Schwarzhaarigen gesehen worden war.