haben, die uns über Zeitpunkt und Todesursache aufklären, und das Labor die Spuren ausgewertet hat, können wir daraus vielleicht erste Rückschlüsse ziehen.« Frickes ernster Blick wanderte über die Anwesenden. »Weitere Fragen? Nein? Dann an die Arbeit.«
Malin verließ als eine der Letzten den Raum. Sie eilte Frederick Bartels hinterher, der sich angeregt mit dem rothaarigen Ermittler unterhielt. Das ist also Andresen, dachte Malin und musterte die bullige Statur des Polizisten. Das Gespräch verstummte sofort, als sie auf die beiden zutrat.
»Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden. Ich bin Malin Brodersen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich weiß, wer du bist«, erwiderte Andresen, ohne auf die dargebotene Hand zu reagieren. »Fred, ich warte im Wagen auf dich.« Er drehte sich um und ging auf den Fahrstuhl zu.
Verblüfft sah Malin ihm hinterher. »Was für eine Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?«
»Dein Ruf ist dir wohl schon vorausgeeilt. Ich habe dich ja gewarnt.«
»Fred, was soll das denn jetzt? Und vor allem, was meint er damit, dass er im Wagen auf dich wartet? Ich dachte, wir beide sollten weiter Klinken putzen?«
»Komm schon, Malin, es war keine Rede davon, dass du die ganze Zeit an meiner Seite klebst. Ich führe die restlichen Befragungen mit Sven durch. Bei der Gelegenheit kann er sich gleich ein Bild vom Tatort machen.«
Malin hatte Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken. »Wie du meinst. Und was soll ich stattdessen tun?«
»Informiere dich über den Hintergrund des Wellingsbüttler Torhauses. Und sieh zu, dass du die Berichte von der Schutzpolizei bekommst.«
Malin holte tief Luft. »Ich kümmere mich um die Recherche, aber glaubt nicht, dass ich weiterhin sämtliche Büroarbeiten übernehme.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und marschierte davon.
Es war bereits später Abend und die Luft merklich abgekühlt, als Malin die Tür zu ihrem kleinen Stadthaus aufschloss. Sie hatte das hundertfünfzig Jahre alte Bleicherhaus mitten im angesagten Stadtteil Winterhude vor fünf Jahren von ihrer Tante geerbt. Es stand unter Denkmalschutz, hatte einen handtuchgroßen Garten und achtzig Quadratmeter Wohnfläche, verteilt auf vier Räume mit niedrigen Decken. Vom Erdgeschoss mit dem Wohnzimmer und der Küche führte eine kleine Wendeltreppe in die obere Etage. Dort hatte Malin ihr Schlafzimmer und ein Gästezimmer, das ihr allerdings eher als Abstellkammer diente.
Malin war erschöpft und schlecht gelaunt. Sie nahm sich eine halbe Pizza vom Vortag aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Milch dazu ein. Dann ging sie in den ans Wohnzimmer angrenzenden Wintergarten. Es war ihr Lieblingsort, eingerichtet mit einer gemütlichen gelb-weiß karierten Couch, zwei Korbsesseln und einem hellen Sisalteppich.
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Pizza herum. Sie hatte die vergangenen Stunden mit dem Sammeln von Informationen über das Torhaus und das Herrenhaus verbracht, aber wenig Neues erfahren. Außerdem konnte sie sich nicht richtig konzentrieren. Der inszenierte Fundort der Leiche stand ihr ständig vor Augen. Etwas daran ließ sie nicht los, doch sie konnte diesen Gedanken nicht greifen. Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen.
Und sie war noch immer verärgert über ihre Kollegen. Lag es wirklich an ihr oder gab es vielleicht noch andere Gründe für Andresens feindseliges Verhalten? Noch bevor sie zur Mordkommission stieß, hatte sie die Geschichte von Martin Sablowoski gehört. Der Ermittler vom LKA 411 war nach Dienstschluss bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Malin hatte die Lücke, die er in seinem Team hinterlassen hatte, bei ihrem Dienstantritt nahezu körperlich spüren können. Soweit sie wusste, hatte er mit Sven Andresen ein Team gebildet. Das erklärte vielleicht teilweise die Abneigung des rothaarigen Ermittlers gegen sie. Trotzdem ist das keine Entschuldigung, dachte Malin.
Sie stellte fest, dass der Anrufbeantworter blinkte. Die erste Nachricht war von ihrer Freundin Suse, die sie an den Geburtstag einer gemeinsamen Freundin erinnerte und sie bat, bei Gelegenheit mal ihre Sporttasche abzuholen. Malin unterbrach das fröhliche Geschnatter der Freundin und spulte vor zum nächsten Anruf. Die nörgelnde Stimme ihrer Mutter ertönte. Augenblicklich sträubten sich ihre Nackenhaare und sie löschte den Anruf. Seufzend hörte sie die letzte Nachricht ab. Die tiefe Stimme ihres Großvaters informierte sie darüber, dass er ein paar neue Krimis für sie parat liegen hatte.
Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchströmte Malin. Erich Brodersen war der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Beide verband unter anderem die große Leidenschaft zum Krimilesen. Sie hatten schon so manche Nacht damit verbracht, über Plots zu diskutieren. Ihr Großvater hatte sie als Kind in die Welt von Agatha Christie geführt und damit den Grundstein für ihren späteren Berufswunsch gelegt. Leider war er auch der Einzige in ihrer Familie, der sie bei ihrem Vorhaben unterstützt hatte, Polizistin zu werden.
Für einen Rückruf war es heute schon zu spät. Sie beschloss, ins Bett zu gehen.
Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte.
Schlaftrunken setzte sie sich auf. Hinter dem Fenster war es noch dunkel. Malin schaute auf ihren Wecker. Es war vier Uhr zwanzig. Sie hatte gerade mal vier Stunden geschlafen. Stöhnend ließ sie sich zurück in die Kissen sinken und versuchte wieder einzuschlafen. Erneut schob sich der Anblick des Toten vor ihre Augen.
Sie setzte sich auf und starrte in die Dunkelheit. Jetzt wusste sie, woran die Inszenierung der Leiche sie erinnert hatte.
3
Als Malin ihren Wagen an der Elbchausee in Övelgönne abstellte, brach gerade der Morgen an. Dicke Wolken hingen am Himmel und kräftiger Wind zerzauste ihr die Haare. Rasch lief sie die Treppen des Schulbergs hinunter, um zu dem schmalen Fußweg zu gelangen, der zwischen den ehemaligen Lotsenhäusern und ihren kleinen Gärten hindurchführte. Sie ging auf eines der aus Backstein gebauten Fachwerkhäuser zu und klopfte an die Tür.
Kurze Zeit später wurde sie geöffnet. Frisch geduscht, die grauen Haare sorgfältig aus dem Gesicht gekämmt und bereits komplett angezogen, stand ihr Großvater Erich Brodersen vor ihr. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre wirkte der ehemalige Fährkapitän kräftig und energiegeladen. Sein Blick war klar und intelligent, und um seine blauen Augen hatten sich viele kleine Lachfältchen gebildet.
»Himmel, Malin, was treibt dich denn um diese Zeit hierher? Jetzt komm erst mal rein, mein Schatz.« Malin wurde von ihm in den Flur gezogen und seine kräftigen Arme drückten sie liebevoll.
»Hallo, Opa, ich bin völlig durch den Wind. Ich brauche unbedingt deine Hilfe. Ich bin da einer total verrückten Sache auf der Spur«, sprudelte sie heraus.
Ihr Großvater sah sie fragend an. »Komm, setzen wir uns erst mal, dann kannst du mir in Ruhe alles erzählen.«
Malin folgte ihm in die Küche. Blau-weiße Kacheln, massive Küchenschränke mit rustikaler Arbeitsplatte, freigelegte Deckenbalken und ein alter Gesindetisch sorgten für Gemütlichkeit.
Sie setzte sich auf eine der Holzbänke und erzählte vom Fund der Leiche am vergangenen Tag. Ihr Großvater strich sich hin und wieder bedächtig übers Kinn. Als Malin ihren Bericht beendet hatte, folgte langes Schweigen.
»So sieht sie jetzt also aus, deine Welt«, sagte er schließlich. »Ist es das, was du wolltest?«
Malin schluckte. »Es war mir klar, dass ich mit so etwas konfrontiert werde. Deshalb wollte ich zur Mordkommission. Auch wenn die Realität anders ist als Krimis.«
»Also gut. Wie kann ich dir helfen?«
Malin holte tief Luft. »Beim Anblick der Leiche war mein erster Gedanke: Das habe ich schon mal gesehen. Das Ganze hatte so etwas Surreales, es war fast wie in einem Film. Und jetzt bin ich mir sicher: Ich habe es gelesen. Genau so habe ich es in irgendeinem Buch gelesen. Dummerweise fällt mir der Name des Autors nicht ein.«
Erich runzelte die Stirn. »Könntest du es vielleicht auch woanders gelesen haben? Vielleicht in einem Zeitungsartikel oder in einer dieser Fachzeitschriften?«
»Du hältst mich also nicht für völlig verrückt?«