lässt den Laden nicht im Stich. Du kennst ihn doch!«
Eine Floskel, die Lutz zu denken gab. Was wusste er wirklich über seinen Sohn? Er fragte nach der Studentin, die ab und zu im Laden aushalf. Vielleicht hatte Arthur mit dem Mädchen gerechnet.
Josef Brunner widersprach. »Simone hat einen Job auf dem Weinfest. Sie arbeitet jedes Jahr am Stand ihres Onkels.«
Die Rheingauer Weinwoche ging in die letzte Runde. Nur noch zwei Tage, was Lutz sehr bedauerte. Wie in jedem Jahr hatte er das Weinfest dazu genutzt, seine Kontakte zu pflegen, und sich jeden Abend mit Freunden, Autoren und Geschäftspartnern bei verschiedenen Winzern getroffen und neben den hervorragenden Weinen auch das wunderbare Sommerwetter genossen. Seinetwegen hätte das Fest noch andauern können.
Während sie gemeinsam erwogen, was Arthur aufgehalten haben könnte, schlug die Türglocke an. Eine junge Frau betrat den Laden: Diane Fischer, die Ehefrau des erfolgsverwöhnten Architekten Moritz Fischer. Lutz kannte Moritz, seit er mit Arthur in eine Schulklasse ging, und begegnete dem Ehepaar Fischer hin und wieder bei privaten Einladungen und öffentlichen Veranstaltungen. Das letzte Treffen hatte in der ›Villa Stella‹ stattgefunden, erinnerte er sich nur allzu gut. Zwei Wochen lag das zurück. Die Fischers hatten anlässlich der abgeschlossenen Renovierung ihrer Bauhausvilla eine Reihe von Leuten eingeladen, die sie für bedeutend genug hielten, und auch Lutz Tann auf die Gästeliste gesetzt. Ob er die Einladung seiner Eigenschaft als Wiesbadener Verleger zu verdanken hatte, oder der Tatsache, mit der Galeristin Undine Abendstern liiert zu sein, wollte er nicht abwägen. Die Fischers hatten eines oder zwei Gemälde bei Undine gekauft. An jenem Abend hatte er die Blicke kaum von Diane lassen können. Undine verfügte über genügend Stil, um mit der Szene zu warten, bis sie im Wagen saßen. Seine altbackenen Argumente, sie könne sich die grundlose Eifersucht sparen, Diane Fischer sei eine verheiratete Frau und außerdem viel zu jung für ihn, falls er sich für sie interessieren würde, was er selbstverständlich nicht täte, diese und andere Ausflüchte hatte sie mit dem Einwand weggewischt, Diane Fischer sei für gar nichts zu jung und bestimmt nicht die Frau, die sich von einem Seitensprung abhalten ließe. Er war schließlich zu Fuß in seine Wohnung gegangen, und Undine hatte sich erst nach Tagen beruhigt. Er kannte diese Ausbrüche; sie gefiel sich in der Rolle der Tobsüchtigen und pflegte ihre ungerechtfertigten Angriffe. Haltlos deswegen, weil sie von seinen Affären, die er selbstverständlich immer wieder hatte, nichts wissen konnte. Er war diskret.
Diane Fischer eilte ihnen entgegen. Sie fragte nach Arthur. Lutz erwiderte ihr Lächeln mit gemischten Gefühlen. Er fand sie beunruhigend fraulich und anziehend, und zugleich wirkte sie auf ihn wie ein trotziges Kind. Der Blick ihrer Mandelaugen machte ihn mit jeder Begegnung nervöser. Josef Brunner schien gegen diesen Angriff tiefgründiger Weiblichkeit immun zu sein. Nein, er habe keine Erklärung, wo Arthur sich aufhalte, erklärte er ungerührt.
Diane Fischer schob die Unterlippe vor. »Ich verstehe das nicht. Wir waren verabredet. Arthur hat mir ein paar Bücher versprochen.«
Wie viele Leute mochte Arthur an diesem Morgen versetzt haben? Josef legte die hohe Stirn in Falten. Lutz verabschiedete sich mit der Ankündigung, später noch einmal vorbeizukommen, und verließ das Geschäft. Er ging entlang der Taunusstraße zurück zum Neropark und bog dort nach halber Strecke zu seiner Wohnung ab. Nach dem Tod der Eltern war er wieder in die ›Villa Tann‹ gezogen. Das Haus thronte hoch über der Straße und war nur über eine steile Treppe zu erreichen. Auf der unteren Stufe wackelte eine Steinplatte unter seinem Tritt. Er musste sie dringend befestigen lassen. Lutz seufzte unwillkürlich. Ständig war an der Villa etwas zu überarbeiten. Erst im vergangenen Jahr hatte er die Heizung rundum erneuern lassen. Die 100-jährige Stadtvilla war ein Fass ohne Boden. So sehr er das Haus auch liebte, manchmal wünschte er sich, in einem profanen Neubau zu leben. Aber ein Verkauf kam nicht in Frage. In nicht allzu ferner Zeit würde die Villa seinem einzigen Sohn Arthur gehören, und Arthur müsste für das Erbe der Familie aufkommen wie andere Söhne zuvor.
Mit diesem tröstlichen Gedanken stieg er die Treppe hinauf.
5
Das hochsommerliche Wetter und die Gewissheit, dass die Rheingauer Weinwoche an diesem Samstag in ihren vorletzten Tag ging, ließ die Wiesbadener Bürger und Besucher aus der Umgebung zum neuen Rathaus strömen. Familien und Freunde drängten sich zwischen den Buden, die sich dicht an dicht vom alten Rathaus und entlang des Landtags bis zur Marktkirche zogen, deren rote Backsteinmauern in der Morgensonne wie Kupfer glänzten. Wer an den langen Tischen einen Platz ergattern konnte, gab ihn so bald nicht wieder auf. Hinter dem Rathaus bot der freie Platz des Dernschen Geländes den Verkaufsbuden mehr Raum. Doch auch hier waren bereits die meisten Tische und Bänke besetzt. Das Weinfest galt als beliebter Anlass zu einem Treffen mit Verwandten und Bekannten ebenso wie mit Geschäftspartnern und Kollegen, und man ließ sich den Riesling schon am Vormittag schmecken.
Gegen halb 12 machte man sich in allen Ständen, die Snacks und warme Mahlzeiten anboten, auf den bevorstehenden Mittagsansturm gefasst. Gabi hatte aus der Küche des ›Räuber Leichtweis‹ einen Tagesvorrat an Handkäs und grüner Soße samt der Kartoffeln heranschaffen lassen und zeigte den beiden Studentinnen, wie die Portionen zu verteilen waren, während Norma schon einmal Teller und Besteck bereitstellte. Der Fußboden in Brunos Verkaufswagen lag um drei Tritte erhöht, und so bot sich Norma, wenn sie von ihrer Arbeit aufsah, über die Köpfe der Besucher hinweg ein freier Blick auf den Stand des ›Wiesbadener Kuriers‹ vor den Stufen der breiten Rathaustreppe. Unter den zwei Damen und vier Herren, die zu dieser Stunde im Einsatz waren, hatte sie einen Bundestagsabgeordneten und einen Wiesbadener Galeristen erkannt. Bruno blieben nur noch wenige Minuten, bis sein karitativer Dienst begann. Am frühen Morgen hatte er sich am eigenen Stand blicken lassen und war, wie an den anderen Tagen auch, im Handumdrehen verschwunden, um im ›Parkhof‹ nach dem Rechten zu sehen.
Norma bückte sich nach einer Gabel. Als sie sich wieder aufrichtete, entdeckte sie Bruno auf der Rathaustreppe. Langsam stieg er die Stufen hinunter: Ein behäbig und schwerfällig wirkender Mann, dessen flinke Beweglichkeit man leicht unterschätzte. Am Stand kam es zu einem Gedränge, bis Bruno und seine Kollegen und Kolleginnen auf Zeit die Plätze eingenommen hatten. Die Studentinnen diskutierten tuschelnd, ob die Fernsehredakteurin so attraktiv war wie auf dem Bildschirm.
Bruno lächelte matt und winkte den Menschen ringsherum linkisch zu. Bereits am Morgen war er Norma auffallend unruhig vorgekommen. Nun zeigten seine runden, sonst rötlichen Wangen eine ungewöhnliche Blässe. Unablässig fuhr er sich mit einem Taschentuch über den Nacken. Die Einladung des ›Kuriers‹ erfüllte ihn mit Genugtuung; darin war sich Norma sicher. Aber seine Nervosität ließ sich damit nicht erklären. Etwas anderes musste ihm zu schaffen machen. Fischers Verrat vielleicht?
Für den Architekten wurde es höchste Zeit, seinen Dienst anzutreten. Endlich entdeckte Norma in der Menge die schlanke Gestalt mit den hellen aufgebürsteten Haaren und einem jungenhaften Lächeln. Moritz Fischer eilte dicht an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken – oder bemerken zu wollen – und bahnte sich, unermüdlich um Entschuldigung bittend, gegen den Besucherstrom einen Weg zum Prominentenstand. Dort wurde er von einer Dame hineingebeten. Sie schien von ihrem Gast entzückt. Moritz Fischer war es in den vergangenen Wochen, vor allem dank der ›Villa Stella‹, öfter denn je gelungen, sich ins Gespräch zu bringen. Eilfertig verteilte er Küsschen unter den Damen und reichte den Männern die Hand. Bruno blickte auf seine Finger, als hätte er sich am Herd verbrannt, und würdigte den Architekten danach keines Blickes.
Normas Beobachtungen wurden von einem jungen Paar unterbrochen. Sie nahm die Bestellung auf und richtete zwei Portionen Kartoffeln mit grüner Soße an. Kaum hatte sie die Teller weitergereicht, wurde sie von einem adrett frisierten Lockenkopf angesprochen.
»Hallo, Norma. Wie gehts denn so?«, säuselte Diane Fischer.
Norma durfte sicher sein, an ihrem Wohlergehen war niemand weniger interessiert als Diane. Es musste ihr ein diebisches Vergnügen bereiten, Norma in Brunos Bude schuften zu sehen. Man konnte nicht sagen, dass die elegante Frau nicht arbeiten wollte. Sie war außerordentlich fleißig. Allerdings, wie sie niemals zu betonen vergaß, ausschließlich im schöpferischen Bereich und vorzugsweise im Architekturbüro ihres Mannes Moritz. Für ihre Entwürfe