Straße 55
Zitat
»Ich liebe … Ich liebe doch alle … alle Menschen … Na, ich liebe doch … Ich setzte mich doch dafür ein!«
Erich Mielke vor der DDR-Volkskammer
(13. 11. 1989)
Aus dem Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik (StGB)
§ 213. Ungesetzlicher Grenzübertritt. (1) Wer widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eindringt oder sich darin widerrechtlich aufhält, die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise, Reisewege und Fristen oder den Aufenthalt nicht einhält oder wer durch falsche Angaben für sich oder einen anderen eine Genehmigung zum Betreten oder Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik erschleicht oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlässt oder in dieses nicht zurückkehrt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder öffentlichem Tadel bestraft.
(2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn
1. die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführen dazu geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird;
2. die Tat durch Missbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertrittsdokumenten, durch Anwendung derartiger falscher Dokumente oder durch Ausnutzung eines Verstecks erfolgt;
3. die Tat von einer Gruppe begangen wird;
4. der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.
(3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.
PROLOG
(Ost-Berlin, Montag, 5. Oktober 1964)
1
Ost-Berlin (Stadtbezirk Mitte), Strelitzer Straße 55│00:30 h
»Halt, stehen bleiben – deutsche Grenztruppen!«
Die verdächtige Person stellen, ansprechen und die AK-47 entsichern.
Und, falls nötig, auch Gebrauch davon machen.
So war es ihm beigebracht, eingetrichtert und bis zum Abwinken durchexerziert worden.
Aber das war Schnee von gestern. Wie überhaupt alles, was er während der Ausbildung gelernt hatte, Schnee von gestern war. Egon Schultz, 21 Jahre, Unteroffizier der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee und erst ein knappes Jahr Zeitsoldat, umklammerte den Schaft seiner Kalaschnikow und näherte sich der Treppe, die zur Hoftür des Ost-Berliner Mietshauses führte. Übungen waren nämlich eine Sache. Der Ernstfall, mit dem er konfrontiert war, etwas anderes.
Etwas, womit weder er noch sein Kamerad und schon gar nicht die beiden Maulhelden, die vor einer halben Stunde Alarm geschlagen hatten, gerechnet hatten.
»Mitkommen – oder ich schieße!« Dabei hatte es zunächst alles nach einem geruhsamen Abend ausgesehen. Zunächst, wohlgemerkt. Bis am Führungspunkt Arkonaplatz zwei MfS-Offiziere aufgekreuzt waren. Von da an, kurz vor Mitternacht, war es mit der Ruhe vorbei gewesen. Und mit derjenigen der drei Kameraden, die bei der Alarmgruppe der 1. Kompanie des Grenzregiments 33 Dienst schoben, natürlich auch. Schultz, mittelgroß, kräftig, dunkelblond und im Zivilberuf Lehrer, war gar nicht erst zum Fragen, geschweige denn zu einer Lagebeurteilung gekommen. Dazu, wie für weitergehende Erklärungen, war laut Aussage eines gewissen Herrn Stiel, der ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen war, keine Zeit gewesen. Wohl auch deshalb hatte der Stasi-Offizier nicht lange gefackelt, Schultz und die anwesenden Kameraden seinem Befehl unterstellt und sie zum Mitkommen vergattert. Dann waren die beiden Wartburgs, gefolgt von einer Kradstreife, in halsbrecherischem Tempo Richtung Grenze gerast. Dort, genauer gesagt in der Strelitzer Straße 55, sollte eine Personenkontrolle durchgeführt und die Verdächtigen, falls nötig, verhaftet werden. Schultz war dies nicht nur merkwürdig, sondern ausgesprochen verdächtig vorgekommen. Aber Befehl war nun einmal Befehl. Und Schultz hatte nicht vorgehabt, unangenehm aufzufallen. Deshalb hatte er den Mund gehalten, nicht ahnend, was auf ihn zukommen würde.
»Los, schnappt ihn euch!« Die Waffe im Anschlag, spähte Schultz nach draußen, mit steingrauem Pullover, einer ebenfalls grauen Militärhose und blankgeputzten Lederstiefeln bekleidet. Der Hinterhof lag in tiefem Dunkel, und er fragte sich, was er hier zu suchen hatte. Unter Personenkontrolle, wie vom Stasi-Hauptmann behauptet, verstand er jedenfalls etwas anderes und man musste nicht viel Fantasie besitzen, um die beiden Schnösel aus der Firma zu durchschauen. Schon sehr häufig waren von Wedding aus Tunnel gegraben worden, was ihn, dem linientreuen SED-Anhänger, in seiner Meinung nur bestärkt hatte. Der Westen, allen voran die BRD, hatte nichts anderes im Sinn, als seinem Land zu schaden. Wenn es sein musste mit allen Mitteln. Ob Fluchthelfer, Agenten, Spione oder Saboteure – die Subjekte, die es zu bekämpfen galt, waren alle gleich. Ließen nichts unversucht, dem Sozialismus zu schaden. Aber sie hatten die Rechnung ohne Leute wie ihn gemacht. Er, Egon Schultz, würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihre Machenschaften zu unterbinden. Und sei die Gefahr, in die er sich begab, noch so groß.
»Na los, oder brauchen Sie eine Extra-Einladung?« Schultz schnappte nach Luft, unterließ es aber, seinem Unmut Luft zu machen. ›Typisch!‹, fuhr es dem Unteroffizier durch den Sinn, während er nachdachte, wie dem Feind, der da draußen auf der Lauer lag, beizukommen war. Typisch Stasi. Volle Deckung nehmen, während andere die Dreckarbeit machen. Eine große Lippe riskieren, selbst aber zu feige, um die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
Mit einem Wort: große Klappe, aber nichts dahinter.
Was also tun? Was tun, wenn die Kriminellen, die vor ihnen Reißaus genommen hatten, wie vom Erdboden verschluckt zu sein schienen? Was tun, wenn nicht klar war, wie viele von ihnen sich hier rumtrieben?
»Nein, ganz bestimmt nicht!«, beteuerte Schulz, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Ich frage mich nur, mit wie vielen von denen wir es zu tun …«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, junger … wie war doch gleich Ihr Name?«
»Schultz, Egon Schultz.«
»Ich will Ihnen mal was sagen, Sie Klugscheißer –«, zischte der Hauptmann, so laut, dass sein Kamerad, NVA-Soldat Maier, erschrocken zusammenfuhr. »Wenn Sie nicht sofort Ihren Hintern in Bewegung setzen, können Sie sich auf was gefasst machen! Dann werden Sie bereuen, dass Sie mir über den Weg gelaufen sind. Kapiert, was ich damit sagen will? Entweder Sie gehen jetzt da raus, oder ich sorge dafür, dass Sie die längste Zeit Grenzsoldat gewesen sind!«
Schultz verzog keine Miene, und da er wusste, wie man mit Leuten vom Schlage eines MfS-Hauptmanns umgehen musste, schluckte er seinen Ärger hinunter. Jetzt war nicht die Zeit, um sich an die Gurgel zu gehen, was zählte, war der Kampf gegen den Feind. Gegen den gemeinsamen Feind. Als Unteroffizier saß er am kürzeren Hebel, und wenn es etwas gab, auf das er nicht erpicht war, dann darauf, in einer Arrestzelle zu landen. Was das betraf, war die Stasi schnell bei der Hand, allen voran dieser Hauptmann, der nicht zögern würde, ihn beim Regimentskommandeur anzuschwärzen. An die Folgen, die das haben würde, wollte er lieber nicht denken. Wenn er Glück hatte, würde er ein paar Wochen Bau bekommen, wenn nicht, konnte er froh sein, wenn man ihn in eine Strafkompanie steckte. Was das bedeutete, wusste er nur zu gut, und so beschloss er, in Zukunft den Mund zu halten.
»Haben wir uns verstanden, Schultz?«
Ja, haben wir!, dachte der Angesprochene voller Groll und wich dem Blickkontakt mit dem Stasi-Offizier aus. Einstweilen gab es Wichtigeres zu tun, wenngleich er sich fragte, ob er nicht dabei war, einen Fehler zu begehen.
Dennoch: Für Gedankenspiele, gleich welcher