Uwe Klausner

Stasi-Konzern


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dass sie ihre Deckung verlassen, das Gelände von verdächtigen Elementen säubern und gegebenenfalls das Feuer eröffnen würden.

      Aber nur, wenn Gefahr drohte.

      Oder wenn auf sie geschossen wurde.

      Na, dann mal los!, dachte Schulz, verstärkte den Griff um den Schaft seiner AK-47 und bedeutete Maier, ihm auf den Hinterhof des Hauses Strelitzer Straße 55 zu folgen.

      Dort wandte er sich nach links, den Finger am Abzug seiner Kalaschnikow. Kaliber 7,62 mal 99 Millimeter. 600 Schuss pro Minute. Eingestellt auf Dauerfeuer. Genug, um kriminellen Elementen das Fürchten zu lehren.

      Genug, um mit Banditen, Saboteuren und vom Westen gesteuerten Agenten aufzuräumen.

      Doch Egon Schultz, 21 Jahre, neun Monate und einen Tag alter NVA-Unteroffizier, irrte. Zwar nicht zum ersten, aber definitiv zum letzten Mal in seinem Leben.

      *

      Das hatten sie jetzt davon. Buddeln bis zum Umfallen, 145 gottverdammte Meter, 12 Meter tief. Tag und Nacht, sechs Monate, drei Wochen und auch noch den letzten von insgesamt 175 gottverdammten Tagen. Knöcheltief im Berliner Mergel, verschmutzt, verdreckt, durchnässt, übermüdet, kurzatmig und das Rumpeln der Doppeldeckerbusse oder die Schritte der DDR- Grenzpatrouillen im Ohr. Stromkabel verlegen, eine Entlüftungsanlage installieren, Telefon anschließen. Funkgeräte, Gasmasken und vor allem Knete auftreiben, im Ganzen über 35 Mille. Und zusehen, möglichst viele Ost-Berliner nach drüben zu schleusen.

      Tagein, tagaus. Ohne Unterbrechung.

      Genau das aber, ihre Selbstlosigkeit, war zum Bumerang der Aktion geworden. Das Risiko, an den Falschen zu kommen, war eminent groß, konnte man doch nie sicher sein, ob etwas durchsickerte. Ein falsches Wort, am Ende gar ein gezielter Hinweis – und die Stasi würde ihnen die Hölle heißmachen. Mielke und Genossen hatten überall ihre Leute sitzen, und man tat gut daran, niemandem über den Weg zu trauen. Vertrauen war gut, Misstrauen allemal besser.

      Ein Leitspruch, der oberste Priorität besaß, an den sich jeder, auch er, gehalten hatte.

      175 gottverdammte Tage lang.

      Abzüglich der letzten Dreiviertelstunde.

      Christian Zobel, 24, Student und im Nebenberuf Fluchthelfer, verstand die Welt nicht mehr. Bis zuletzt war alles wie am Schnürchen gelaufen. Besser, als er, Furrer und die anderen es sich erträumt hatten. Am Sonnabend, also vorgestern, hatten die ersten Flüchtlinge den Tunnel durchquert. Und was hieß hier überhaupt ›durchquert‹? Ein Spaziergang war das Ganze weiß Gott nicht gewesen. Im Gegenteil. Kriechen war das Gebot der Stunde. 20 Minuten, mitunter sogar eine knappe halbe Stunde lang. Auf allen Vieren, hintereinander, einer nach dem anderen, im Ganzen 57 Menschen. Das war Rekord gewesen – und mehr als genug.

      Aber nicht für Furrer. Kurz vor zwölf, vor ziemlich genau einer Dreiviertelstunde, hatte sein Kumpel einen Riesenfehler gemacht.

      Vielleicht den größten seines Lebens.

      Zobel stöhnte innerlich auf. Kaum zu fassen, aber wahr. Leider. Ausgerechnet dann, als alles wie am Schnürchen zu laufen scheint, tauchen diese beiden Gestalten auf, der jüngere mit einer Taschenlampe in der Hand. Öffnen die Haustür, treten in den Flur und bewegen sich auf das Hoftor zu. Durch die Milchglasscheiben der Haustür fällt das Licht einer Laterne, aber nicht genug, dass man ihre Gesichter erkennen kann. Furrer, in Erwartung weiterer Flüchtlinge, schöpft zunächst keinen Verdacht, auch dann nicht, als die beiden das verabredete Losungswort ›Tokio‹ nicht nennen. Flurlicht nicht angeknipst, Losungswort nicht genannt – irgendwie, so scheint es, lässt Furrer die gebotene Vorsicht vermissen. Eine Fehleinschätzung mit Folgen. Mit Folgen, die sie alle, auch ihn, in tödliche Gefahr bringen.

      Zobel schüttelte den Kopf. Furrer, akribisch wie kaum ein anderer – ausgerechnet ihm musste so etwas passieren. Ausgerechnet er, Physikstudent an der FU Berlin, schöpft im Gegensatz zu sonst keinerlei Verdacht. Kauft den beiden ihre Lügengeschichte ab. Wird selbst dann nicht misstrauisch, als sie darum bitten, noch einen Kameraden mitnehmen zu dürfen. Ein, wie sich noch zeigen wird, unentschuldbarer Schnitzer.

      Kurz nach halb eins, vor wenigen Minuten, wird ihm jedoch klar, dass er hereingelegt worden ist. Furrer, der mit ihm, Zobel, den Eingang im Auge behält, beobachtet drei Männer, die von der Strelitzer Straße aus das Haus betreten. Da er in zwei von ihnen die vermeintlichen Flüchtlinge erkennt, eilt er dem Trio entgegen, um die notwendigen Anweisungen zu geben.

      Der dritte und, wie Zobel blitzartig klar wird, schwerwiegendste Fehler.

      Doch war es müßig, darüber nachzudenken. Momentan hatte Zobel andere Sorgen. Jetzt, wo der bewaffnete Grenzer den Hof betrat, beschäftigte ihn nur noch eins: die Frage, wie er möglichst schnell die Fliege machen konnte.

      Jetzt ging es um die Wurst, sprich: ums Überleben. Und natürlich auch darum, ob der Tunnel, dessen Einstiegsloch in knapp sieben Metern Entfernung unerreichbarer denn je erschien, entdeckt werden würde. Ein Toilettenhäuschen, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, war zwar die perfekte Tarnung. Aber da der Hof recht klein und die Grenzer nicht auf den Kopf gefallen waren, konnte man davon ausgehen, dass sie nicht lange Bestand haben würde.

      Was also tun? Was tun, wenn der Bewaffnete, der sich suchend umschaute, Ernst machen würde?

      Zobel kam nicht dazu, den Gedankengang abzuschließen. Kaum hatte der NVAler den Hof betreten, riss er die Waffe hoch und zielte. Er tat dies mit Bedacht, als sei Furrer, der in gebückter Haltung auf das Toilettenhäuschen zu rannte, im Grund kein Gegner für ihn. »Abhauen!«, war alles, was der Physikstudent hervorbrachte, um seinen Kumpel, der hinter dem Abort in Deckung gegangen war, zu warnen. »Höchste Gefahr!«

      Zobel, bislang unentdeckt, wusste, was er zu tun hatte. Nicht einzugreifen hieß, dass Furrer, der um sein Leben rannte, wie ein Hase abgeknallt werden würde. Und es bedeutete, dass auch ihm, dem der Fluchtweg abgeschnitten war, das gleiche Schicksal drohte. Deshalb, und nur deshalb, musste er genau das tun, was er sich bis vor Kurzem, als er seine Knarre zum ersten Mal in der Hand hielt, nicht hatte vorstellen können.

      Er musste zur Waffe greifen, sie auf einen Menschen richten und abdrücken. Er musste damit rechnen, dass dieser Mensch, ein DDR-Grenzsoldat, ums Leben kommen würde.

      Durch sein Zutun.

      Und durch seine Schuld.

      Zobel brach der kalte Schweiß aus den Poren. In die Luft schießen, um den Grenzer abzulenken – schön und gut. Aber was dann? Dann, so war zu befürchten, würde der Kerl sich umdrehen und ihn mit Kugeln vollpumpen. Für ihn, den linientreuen Genossen, wahrscheinlich das Größte. Wer weiß, vielleicht würde er demnächst als Held gefeiert, mit Ehrungen überhäuft und als Musterbeispiel eines rechtschaffenen Staatsbürgers präsentiert werden. Bei denen da drüben, zumindest bei den Hundertprozentigen, musste man mit allem rechnen.

      Mit einer Kalaschnikow konnte man gleich reihenweise Leute abknallen, warum also nicht auch ihn?

      Zobels Griff, mit dem er seine Walther PPK umklammert hielt, erreichte die Schmerzgrenze, und während er auf seinen Kontrahenten zielte, begann die Hand, in der er die Waffe hielt, zu zittern. Eine Pistole Kaliber 7,65!, dachte er resigniert, was soll ich überhaupt damit? Zu wenig, um es mit einem NVAler aufnehmen zu können, zu viel, um hinterher nicht als Mörder dazustehen. Ein Schießeisen, wie man es aus Edgar-Wallace-Krimis kannte. Verglichen mit dem, was der Grenzer in der Hand hielt, der reinste Witz.

      Aber auch darauf kam es jetzt nicht mehr an. Die Waffe im Anschlag, trat der Fluchthelfer aus der Hoftürnische hervor, in die er sich beim Auftauchen des Grenzers gezwängt hatte. Die Zeit des Abwägens, ohnehin kurz genug, war vorüber. Jetzt war es an der Zeit zu handeln.

      Höchste Zeit, um Furrer, der um sein Leben rannte, aus der Patsche zu helfen.

      Jetzt gleich.

      *

      »Verdammt noch mal, warum schießt denn hier keiner!« Das war deutlich, mehr als deutlich. Und es waren die letzten Worte, die Egon Schultz, Kandidat der SED, aus dem Mund des Stasi-Mannes hörte.

      Die