nichts dabei, eine Zigarette Marke Herzegowina Flor anzuzünden. »Damit Sie Bescheid wissen: Ein Anruf von mir, und Sie kriegen den Wind von vorn. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich entscheiden, was mir weniger behagt: Ärger mit meinem Chef oder …«
»Oder?«, trotzte die Sekretärin, die außer dem Institutsleiter keine anderen Götter neben sich duldete. »Wollen Sie mir etwa drohen?«
Czerny antwortete mit einem gequälten Schnauben. »Ich fürchte, Sie verkennen die Situation, junge Dame«, antwortete der 43-jährige Major, sog an seinem Glimmstängel und blies seinem Gegenüber, das ihn mit verkniffener Miene beäugte, den Rauch ins Gesicht. »Wenn hier jemand am längeren Hebel sitzt, dann bin ich es. So viel Erfahrung, will heißen: Kenntnis der Gepflogenheiten in unserem Arbeiter- und Bauernstaat, müssten Sie eigentlich haben. Ergo: Sie werden mir jetzt den Befund in Sachen Egon Schultz, Unteroffizier der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee, aushändigen. Und zwar umgehend. Ich hoffe, das war deutlich genug.« Die Zigarette in der Linken, griff Gerd Czerny, von Geburt Deutscher, dank eines russischen Stiefvaters jedoch auch Sowjetbürger, nach seinem Dienstausweis, der die Aufschrift ›Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik – Ministerium für Staatssicherheit‹ trug. »Noch Fragen?«
»So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist die Sache nicht.«
»Doch, ist sie.« Ohne sich um seine Gesprächspartnerin zu kümmern, durchmaß der hoch gewachsene MfS-Major das Büro, nahm einen Aschenbecher aus dem Regal und drückte die Zigarette aus. Danach wandte er sich wieder der Sektionssekretärin zu. »Hier, junge Dame – das Aktenzeichen. Damit es schneller geht.«
Aus dem Konzept gebracht, wanderte der Blick der Endvierzigerin zwischen ihrem Besucher und dem Zettel, den er auf den Schreibtisch fallen ließ, hin und her. Natürlich wusste sie, wie der Hase lief, aber das war es nicht, was sie irritierte. Es war etwas anderes, hatte mit dem Mann zu tun, der vor fünf Minuten ohne Voranmeldung aufgetaucht war.
Anneliese Petzold, rechte Hand ihres Chefs und heimliche Herrscherin im Institut für Rechtsmedizin, warf dem Offizier, der vor ihrem Schreibtisch Position bezogen hatte, einen prüfenden Seitenblick zu. Wie erwartet hatte sich der ungebetene Gast zwar ausweisen, sie trotz Imponiergehabe jedoch nicht an der Nase herumführen können. Dazu war Anneliese Petzold, geborene Matuschek, selbst viel zu lange im Polizeipräsidium in der Keibelstraße beschäftigt gewesen. Wie manch anderes hatte sie als Schreibkraft bei der Kripo nämlich eins gelernt: die wirklichen von den vermeintlichen Schurken zu unterscheiden. Was das betraf, machte ihr niemand etwas vor. Und da dem so war, beschlich sie das Gefühl, dass mit dem schlanken, gut gekleideten und zu allem Überfluss auch noch gut aussehenden Stasi-Offizier etwas nicht stimmte. Randlose Brille, hohe Stirn, dunkle Augen, weiches Kinn, volles, grau meliertes und in langen Strähnen nach hinten gekämmtes Haar, gepflegte Erscheinung, dunkler Teint – sie konnte sich nicht helfen, aber irgendetwas stimmte mit dem Besucher aus der Normannenstraße nicht.
Irgendetwas war an der Sache faul, und sie hätte zu gerne gewusst, was.
Dies herauszufinden war jedoch nicht ihr Problem. Damit sollten sich die hohen Herrn herumschlagen, allen voran ihr Chef, die in Ost und West gleichermaßen anerkannte Koryphäe. »Sie werden es nicht glauben, junger Mann – ich habe sie im Kopf.«
»Und ich, falls Sie mir die Bemerkung gestatten, habe Sie durchschaut!«, antwortete der MfS-Offizier, der dem Bild, das man sich von einem Angestellten der Firma machte, in keiner Weise entsprach. Mit einem Wort: Er war anders, laut Fazit von Anneliese Petzold, die sich dazu durchrang, einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade hervorzuholen, mit Sicherheit ein hohes Tier. Mit dem Bild, dem man sich von einem Stasi-Agenten machte, stimmte er jedenfalls nicht überein, auch wenn er alles daransetzte, so zu erscheinen. »Soll ich mich umdrehen?«
»Ich bitte, darum, Herr …«
»Sie verlangen doch wohl nicht, dass ich meinen Namen nenne?«
»Nein, nicht wirklich«, gab die Sekretärin zurück, klug genug, sich nicht mehr Ärger als nötig einzuhandeln. Vor der Stasi, hinter vorgehaltener Hand VEB Horch, Guck und Greif, hatte selbst sie großen Bammel, und das wollte in der Tat etwas heißen. »Trotzdem bitte ich Sie, draußen zu warten.«
»Machen Sie es uns beiden doch nicht so schwer, Frau Petzold«, erwiderte Czerny und weidete sich am Erstaunen, welches sich auf dem Gesicht der Vorzimmerdame abzeichnete. »Vorschlag zur Güte: Ich drehe mich jetzt um, vertreibe mir die Zeit, indem ich das Porträt des Genossen Ulbricht an der gegenüberliegenden Wand betrachte und übe mich in Geduld. Das heißt, zumindest bis Sie den Safe hinter Ihrem Schreibtisch geöffnet, den Obduktionsbefund zutage gefördert und ihn mir übergeben haben, damit ich ihn mitnehmen und an seinen Bestimmungsort bringen kann.«
»›Mitnehmen‹? Das ist doch nicht Ihr …«
»Und ob es mein Ernst ist, Frau Petzold.« Urplötzlich, von einem Moment auf den anderen, war Anneliese Petzold mit einem anderen Mann konfrontiert. Jetzt kehrte ihr Gegenüber den Stasi-Mann heraus, schlug einen ungehaltenen, um nicht zu sagen barschen Tonfall an. »Meinetwegen machen Sie eine Notiz im Sektionsbuch. Wie Sie wissen, wurde dort am 5. Oktober, also vor vier Tagen, schon einmal ein Vermerk in oben genannter Angelegenheit hinterlassen. Er besagt, dass zwei – in Worten: zwei! – Protokolle bei Ihrem Chef verblieben und per Kurier jeweils ein Exemplar an den Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik und an das Ministerium des Inneren übersandt worden sind. So, und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Unterlagen aushändigen würden.«
»Und was haben Sie damit vor?«
»Das, liebe Verwaltungssekretärin zur Anstellung, lassen Sie lieber meine Sorge sein. Offen gesagt: Meine Geduld ist allmählich erschöpft. Wenn Sie schlau sind, tun Sie bitte genau, was ich sage. Oder ich sehe mich gezwungen, andere Mittel der Überredungskunst anwenden. Soweit alles klar, Frau Petzold?«
Ja, damit war alles gesagt.
Ohne den Major anzuschauen, stand Anneliese Petzold auf, straffte ihr malvenfarbenes Kostüm, öffnete den Safe, der sich an der Rückwand des Büros befand, und holte eine dort neben einer Reihe anderer Dokumente verwahrte Kladde hervor.
»Nicht nur eine, Gnädigste, sondern beide.«
Die Sektionssekretärin gehorchte, legte die Kladden auf den Schreibtisch und schloss den Safe wieder ab. Dann, für ihre Verhältnisse recht spät, ging jedoch ein Ruck durch ihren Körper und sie drehte sich auf dem Absatz um. »Jetzt fällt’s mir wieder ein!«, stieß sie in der Aufregung, die sie plötzlich gepackt hatte, hervor. »Sie waren dabei, stimmt’s? Sie waren dabei, als der Professor und Doktor Meyer den Genossen obduziert haben, der am Montag ermordet worden ist. Ich hab Sie zwar nur im Vorbeigehen gesehen, aber … aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie und ein Kollege von der …«
Auch ohne den Blick, welchen ihr der Unbekannte zuwarf, wurde der Sekretärin im selben Moment klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Und dass es ratsam war, den Mund zu halten.
Endgültig.
»›Ermordet ist gut‹!«, sagte Czerny nach einer längeren Pause, so als habe er sich die Ereignisse, über die er sich vor Ort ein Bild gemacht hatte, nochmals ins Gedächtnis rufen müssen. »Fragt sich nur, von wem!«
Dann ließ er sich die Kladden aushändigen, machte kehrt und verließ wortlos das Büro.
4
Berlin-Schöneberg, Sydows Wohnung in der Grunewaldstraße │07:40 h
Genau hier, an dieser Stelle, war es passiert. Hier hatte seine Mutter die eigene Tochter, Sydows Schwester Agnes, erschossen. Vor seinen Augen. Mit seiner Dienstwaffe. Ohne zu zögern.
Und er? Was war mit ihm?
Er, Tom Sydow, zum Tatzeitpunkt 49 und Kriminalhauptkommissar a. D., hatte zugesehen.
Falsch. Er hatte zusehen müssen. Tatenlos, schreckensstarr, vor Entsetzen, das ihn in eine Art Schockstarre versetzte, wie gelähmt.
Oder war es am Ende seine Schuld gewesen? War es nicht fahrlässig, um nicht zu sagen verantwortungslos,