zimperlich. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass sich ihre beiden einzigen Freunde in Berlin gegenseitig an die Gurgel gingen.
Das Scharnier quietschte leise, als Wibke den Ausgang aufdrückte und hindurchging. Draußen blieb sie stehen und sah Jana durchdringend an, während hinter ihnen dumpf die Tür zufiel. Der Getränkeautomat gegenüber schien hämisch zu feixen.
»Glaub mir. Dieser Nils steckt dahinter!«, drängte Wibke.
Jana fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Lief es auf er-oder-ich hinaus? Sie sah ihre Freundin verständnisheischend an. Wibkes Gesichtsausdruck verhärtete sich. Eine Freundschaft mit Wibke würde immer nach Wibkes Regeln ablaufen, begriff Jana, und in diesem Augenblick zweifelte sie daran, dass Wibke ihr je eine echte Freundin sein könnte, eine, der sie blind vertraute und mit der sie durch dick und dünn ging.
»Man sieht sich«, unterbrach Wibke ihre Gedanken, wandte sich ab und ging kerzengerade davon.
Der Takt, den ihre Stöckelabsätze auf den Steinfliesen schlugen, klang in Janas Ohren wie ein böses Vorzeichen. Sie sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Der dunkelgraue Boden unter ihren Füßen fühlte sich an wie ein Sumpf, in dem sie zu versinken drohte. Wer oder was hatte sich gegen sie verschworen?
Kapitel 7
Donnerstag, 29. Oktober 2020 – Wilhelmsruh, Berlin
Jana flüchtete aus der Uni zurück in ihre Wohnung. Den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße und vom S-Bahnhof Wilhelmsruh bis zur Hertzstraße taumelte sie mehr, als dass sie ihn ging. Die wenigen Passanten, die ihr begegneten, schienen sie genauso vorwurfsvoll zu mustern wie vorhin ihre Kommilitonen, auch wenn sicher keiner von ihnen in ihrem Namen beschimpft worden war. Jana blickte starr geradeaus, presste ihre Tasche an die Brust und setzte einen Schritt vor den anderen, bis sie die Tür zu ihrer Wohnung erreichte. Das mahlende Geräusch, das ihr Schlüssel im Schloss machte, entspannte sie ein wenig. Sie öffnete den Eingang, ließ die Tasche zu Boden gleiten und schloss die Wohnungstür, indem sie sich mit dem Rücken dagegen lehnte, bis das Schloss einrastete. Zumindest in ihrer Wohnung war sie sicher.
Ihr Blick fiel auf einen schmucklosen Umschlag, den offensichtlich jemand unter ihrem Türschlitz durchgeschoben hatte. Zögernd hob sie das leicht vergilbte Couvert auf, »Fräulein J. Loewe« stand mit Schreibmaschine getippt darauf. Der Brief konnte nur von ihrem Vermieter Herrn Lehmann stammen. Bislang hatte sie zwei solche Briefe bekommen: Eine Nachforderung für Nebenkosten und eine Mieterhöhung – nach knapp vier Monaten, die sie hier wohnte. Sie riss den Umschlag auf und las den Dreizeiler:
Sehr geehrtes Fräulein Loewe,
weil Sie seit zwei Monaten die Miete nicht bezahlt haben und das wegen ihrer finanziellen Schwierigkeiten auch zukünftig nicht können, kündige ich hiermit fristlos die Wohnung und erwarte Ihren Auszug spätestens am Monatsende.
Gruß,
Lehmann
»Super, genau das, was ich jetzt brauche.« Jana feuerte ihre Jacke über die Stange mit den Kleiderhaken, die sie als Garderobe benutzte, stapfte in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine und die Kaffeemühle an, drehte mit einem Ruck den Siebträger heraus und leerte ihn mit einem übertrieben harten Schlag auf die Kante des Mülleimers, als ob er schuld an ihrer Lage wäre. Alles, ohne den Brief ihres Vermieters aus der Hand zu legen.
Sie platzierte den Brief neben der Spüle. Mit einem Löffel füllte sie Kaffeemehl in das chromglitzernde Metallsieb, doch der Versuch, das Schreiben ihres Vermieters auch nur für den Augenblick auszublenden, war von vorneherein aussichtslos. Wie magisch zog es ihren Blick an. Sie verschüttete Kaffeepulver, was ihr sonst nie passierte.
»Mann!«, fauchte sie und knallte den Siebträger auf die Arbeitsplatte, dass sich der braune Staub um sie herum verteilte. Das war ihr im Moment gleich. Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer des Vermieters. Nach dem ersten Klingeln überlegte sie es sich anders und legte auf. Sie pflückte ihre Jacke von der Garderobenstange und stapfte durch das Treppenhaus auf die Straße. Passend zu ihrer Stimmung blies ihr ein böiger Wind Dreck und Blätter ins Gesicht. Für einen Umzug hatte sie keine Zeit, eine günstige Wohnung fand sich nicht im Handumdrehen, und außerdem hatte sie kein Auto. Ein Wohnungswechsel kam nicht infrage. Während des 15-minütigen Fußmarsches zu ihrem Vermieter in der Friedrich-Engels-Straße kreisten ihre Gedanken einzig um die Frage, wie das alles passieren konnte. Kämpferischer Stimmung kam sie bei ihrem Vermieter an und klingelte an der Haustür des gelbgrauen Häuschens aus DDR-Zeiten. Es blieb ihr nicht viel Zeit, das heruntergekommene Gebäude zu betrachten, bis sie durch eine schmutzige Milchglasscheibe Herrn Lehmann kommen sah. Die Tür öffnete sich und der Geruch einer schlecht gelüfteten Wohnung schlug ihr entgegen. Lehmann strich seine ungepflegten, gelblichen Haare nach hinten und musterte sie mit herabgezogenen Mundwinkeln. Jana fand ihn genauso abstoßend wie bei ihrer letzten Begegnung.
»Betteln wird Ihnen nichts bringen, Fräulein Loewe«, schnarrte er grußlos.
Für einen Augenblick sah sich Jana in der verhassten Sozialwohnung in Kölnberg, dem Brennpunkt in Köln-Meschenich, in der sie die Jahre nach der Trennung ihrer Eltern gelebt hatte. Ihr Gesicht glühte vor Scham. Die Schwäche dauerte drei, vier Herzschläge lang, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. So jemand wie Lehmann zwang sie nicht in die Knie, schon gar nicht, da sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.
»Guten Tag, Herr Lehmann«, grüßte sie steif. »Das muss ein Missverständnis sein.« Jana gab ihrer Stimme einen werbenden Klang. »Für die Miete habe ich einen Dauerauftrag eingerichtet, sodass Sie jeden Ersten pünktlich Ihr Geld haben! Ich habe die Abgänge im Kontoverlauf gesehen.«
»Ach was! Nichts haben Sie überwiesen!«
Jana schalt sich, weil sie die Kontoauszüge nicht ausgedruckt hatte, um einen Beweis in der Hand zu halten. Ihre Bankgeschäfte erledigte sie schon immer ausschließlich online. Lehmanns Unterlippe schob sich kaum merklich nach vorn. Anscheinend genoss er die Situation.
»Wie gesagt, das muss ein Missverständnis sein. Sehen Sie her!« Jana fischte ihr Smartphone aus der Tasche. Ihre Finger huschten über das Display, als sie sie das Portal ihrer Bank aufrief und sich in ihr Konto einbuchte. Lehmann beobachtete sie mit einer Miene, die keinen Zweifel aufkommen ließ, dass er das Ganze für Zeitverschwendung hielt. Jana drehte den Bildschirm so, dass sie ihn beide sehen konnten. »So, jetzt noch die Zahlungsabgänge an Sie …« Entgeistert brach sie ab. Sie spürte, wie sie aschfahl wurde. Ihr Konto war um über 4.000 Euro überzogen, weswegen der Dauerauftrag für die Miete nicht ausgeführt worden war. Und zwar schon seit September. Dabei überprüfte sie ihr Konto regelmäßig und hätte geschworen, dass sowohl die September- als auch die Oktobermiete pünktlich überwiesen worden waren. Fassungslos sah sie ihren Vermieter an, auf dessen Gesicht sich ein triumphierendes Lächeln ausbreitete.
»Sag ich doch! Schulden haben Sie, bis über beide Ohren. Mir kommen zukünftig nur noch Werktätige ins Haus, Leute, die ihr Geld ehrlich verdienen. Früher hätte es so etwas nicht gegeben.«
Janas Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Zum Glück hat mich die Schufa rechtzeitig gewarnt«, zeterte Lehmann. »Das hat man davon, wenn man so gutmütig ist, an Studenten zu vermieten. Gesocks!«
Jana zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen. Sich mit diesem Widerling zu streiten, war völlig sinnlos, aber seine Wohnung brauchte sie – zumindest bis auf Weiteres.
»Wieso Schufa?«, fragte sie. »Seit wann schickt die von sich aus Auskünfte? Da muss man nachfragen.«
»Sie scheinen sich ja bestens auszukennen, Fräulein Loewe.«
Jana biss die Zähne zusammen und atmete tief ein, um nichts Übereiltes zu sagen. »Wenn Sie einverstanden sind«, erwiderte sie beherrscht, »bringe ich die Miete an jedem Monatsersten vorbei. In bar.«
Lehmann sah sie herablassend an.
»Die schuldige Miete und das Geld für den kommenden Monat könnte ich Ihnen sofort geben.« Sie zog ihren Geldbeutel hervor und nahm ein Bündel kleiner Scheine