Markus Warken

Tödliche K. I.


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gedacht hatte. Der einzige Mensch, den sie liebte, ließ sie im Stich.

      Den Rest der Fahrt starrte sie wortlos geradeaus. Neben ihr schwärmte ihre Tante vom Auswandern, während sie sich mit aller Gewalt gegen die Tränen stemmte, die in ihre Augen drängten. Sie war keine Heulsuse, und Tante Greta hatte jedes Recht, ihr eigenes Leben zu leben, wie sie es für richtig erachtete.

      »Da sind wir«, sagte Greta und bog schwungvoll in ihre Einfahrt ein. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so still. So kenne ich dich gar nicht.«

      »Nein, nein, ich bin nur etwas müde.«

      Sie stiegen aus, nahmen Janas Sachen aus dem Kofferraum und gingen zur Tür. Der große Nussbaum, auf den sie als Kind so gerne geklettert war, beschattete den Weg mit seinen herbstlich gelben Blättern. Auf der Straße spielten Kinder. Ein Junge jagte ein größeres Mädchen, das kreischend zu entkommen versuchte, doch der Junge war schneller und klatschte mit der flachen Hand auf ihren Rücken.

      »Now you’ve got girl cooties«, feixte er. Die anderen Kinder flohen vor dem Mädchen, das mit den Tränen kämpfte.

      »Kennst du das?«, fragte Greta. »Das sind Kinder amerikanischer Soldaten, und sie lieben das Cootie-Spiel. Cooties sind so etwas wie eingebildete Läuse, die du nicht mehr loswirst, es sei denn, jemand erbarmt sich deiner. Margy hat es schon wieder erwischt.«

      »Da läuft einem ja eine Gänsehaut über den Rücken«, murmelte Jana. »Nicht schön, wenn man so eine Laus verpasst bekommt und niemand einem hilft.«

      Jana schauderte bei der Vorstellung von Ungeziefer, gegen das man nichts unternehmen konnte. Unwillkürlich dachte sie an ihren Rechner und ihr Smartphone. Die benahmen sich auch, als wären sie von einer ansteckenden Krankheit befallen.

      »Es ist ein Spiel«, sagte Greta und fasste ihren Arm. »Außerdem kann dich ein Kind des anderen Geschlechts immunisieren.«

      Jana zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, nur ein Spiel.«

      Kapitel 5

      Samstag, 17. Oktober 2020 – Bruchmühlbach-Miesau bei Kaiserslautern

      Am nächsten Morgen half Jana nach einem schnellen Frühstück bei den Vorbereitungen zur Feier. Der Tag verging, ohne dass sich eine Gelegenheit ergeben hätte, ihre Tante wegen Abu Mujahed und Achatz um Rat zu fragen. Für ihren Geschmack viel zu früh waren die ersten Gäste gekommen, und Jana stand mit ihrer Tante und drei weiteren Argentinien-Auswanderern an einem der kleinen runden Tische, die sie überall im Haus aufgestellt hatten.

      Das Gespräch drehte sich ausschließlich ums Auswandern. Jana beteiligte sich nicht daran. Was Tante Greta ans andere Ende der Welt zog, blieb ihr schleierhaft.

      »Mit dem Geld, das ich habe, kann ich in Deutschland nicht ordentlich leben, in Argentinien aber schon«, hatte ihr Greta lapidar auf ihre Frage geantwortet.

      »Mein Chef hat mich gefragt, ob ich Tabletten nehme«, schimpfte Mandy, eine der drei Mit-Auswanderer. »Weil ich mein Konto aufgelöst hatte und mein Gehalt in bar wollte.«

      Jana hatte ihr bislang nur mit halbem Ohr zugehört, aber immerhin mitbekommen, dass die Mittfünfzigerin aus Bautzen gerade ihre Eigentumswohnung auf den 18-jährigen Sohn überschrieben, Telefon und Handy abgemeldet sowie alle Computer entsorgt hatte, um so weit wie möglich aus der Datenerfassung zu verschwinden. Sie fand, man habe sich in der DDR genug überwachen lassen müssen und wollte das nicht mehr. Gerade erzählte sie, dass sie zum Abschluss ihre Stelle gekündigt hatte. Jana kräuselte die Stirn. Wie sollte man so jemanden ernst nehmen?

      »Jana, dein Glas ist leer«, unterbrach Greta ihre Gedanken. »Darf ich dir etwas bringen?«

      »Nein.« Jana zwinkerte ihr zu. »Ich komme mit!«

      Jana folgte Greta in die Küche, wo sie sich an einer lautstark debattierenden Vierergruppe vorbei zu den Flaschen vorarbeiten mussten.

      »Was magst du denn?«, fragte Greta, nachdem sie es bis zu den Getränken geschafft hatten.

      »Kannst du mir etwas Schickes mixen?«, antwortete Jana mit einer Gegenfrage. Das hitzige Gespräch der vier in ihrem Rücken war nicht zu überhören.

      »Mein Rechner ist Teil meiner Privatsphäre«, wetterte Georg, den sie von den Vorbereitungen fürs Fest kannte. Der kleine Mann mit dem graumelierten Vollbart war felsenfest davon überzeugt, im Gegensatz zu allen anderen den Durchblick zu haben. Er war die treibende Kraft hinter der örtlichen Bürgerinitiative gegen Fluglärm. »Da hat niemand etwas zu suchen!« Jana drehte den Kopf und beobachtete die Szene aus dem Augenwinkel. Georg sah seine Gesprächspartner beschwörend an, die Arme vorgestreckt, als wolle er sein Gegenüber an den Schultern packen. »Keine Polizei, kein Geheimdienst, und schon gar keine Unternehmen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich erwarte vom Staat, dass er meine Privatsphäre schützt!«

      »Georg, du bist naiv!«, entgegnete Ronna. »Dann darfst du mit deinem Rechner nicht ins Netz gehen. Es gibt zigtausende von Schwachstellen, die man nutzen kann, um in einen Rechner einzudringen, nicht nur die extra eingebauten Hintertüren für Geheimdienste. Und natürlich werden solche Schwachstellen auch von Kriminellen ausgenutzt. Es gibt sogar einen schwungvollen Handel damit. Gibt doch einfach mal ›exploit‹ in eine Suchmaschine ein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Schließlich mache ich das beruflich für die US-Army!«

      »Wenn man euch zuhört, muss man ja glauben, dass die Mafia jeden Rechner in ihrem Sinne fernsteuert«, spottete Gabriel. Der über zwei Meter große Apotheker war die Ruhe selbst. Am Handgelenk hatte er die neueste Apple-Watch. »Das Internet ist doch großartig. Man kann Sachen machen, von denen man früher nicht zu träumen gewagt hat. Und fast alles ist kostenlos, weil die Leute sich gegenseitig helfen.«

      »Und sicher«, sekundierte seine Frau Verena. »Ich mache zum Beispiel alle Bankgeschäfte online. Aber von meinem Konto wurde noch nie etwas nach Sizilien abgebucht.« Sie lachte.

      »Mensch, Verena«, brach es aus Georg hervor. »Hast du schon mal Skype benutzt?«

      »Natürlich, fast täglich. Meine Tochter ist zu einem Austausch in den USA.«

      »Darüber wurde der erste Bundestrojaner installiert. Von dem hast du doch gehört? Glaubst du, dass niemand sonst auf die Idee kommt, dir auf die Art einen Trojaner einzuschleusen? Wer ist hier naiv?«

      Jana fand Georg unsympathisch – ein überspannter Verschwörungstheoretiker, der Gabriel und Verena intellektuell nicht das Wasser reichen konnte. Sie spürte Gretas Hand an ihrem Arm. »Magst du French 69? Derzeit mein Lieblingscocktail.«

      »Das werde ich jetzt herausfinden«, sagte Jana und griff das Glas, das ihre Tante ihr anbot. »Lass uns wieder ins Wohnzimmer gehen. Hier ist es mir zu eng und zu hitzig.«

      »Gerne. Erzähl mal. Wie läuft es so in Berlin?«

      »Ganz okay. Der Uni-Wechsel war richtig, und wenn es so weitergeht, habe ich in einem Jahr den Master in der Tasche.«

      »Dein Gesichtsausdruck passt aber nicht zu den glänzenden Aussichten. Was ist? Liebeskummer? Ärger mit dem Vermieter? Oder bist du abgebrannt?«

      »Nichts von allem. Ich habe einen Job in einer coolen Whiskybar, und mein Vermieter ist zwar ein Oberspießer, aber ich komme klar. Das Einzige, was nervt, ist Spam. Irgendwie haben irgendwelche Typen viel über mich herausgefunden und schreiben mich sehr gezielt an. Fast schon unheimlich.«

      Sie näherten sich dem alten Tisch, und Mandy kam wie ein Tiger auf Beutefang auf sie zu.

      »Jana, du nutzt doch sicher Facebook?«, unterbrach sie das Gespräch mit Greta.

      »Ja, natürlich.«

      »Seht ihr!«, warf Mandy triumphierend über ihre Schulter, bevor sie Jana die nächste Frage stellte: »Weißt du, was das Facebook-Tracking-Cookie ist?«

      Jana runzelte die Stirn.

      »Seht ihr!«, tönte Mandy erneut nach hinten.

      Jana bekam ein ungutes Gefühl. Entweder waren