Ihr Blick fiel auf die Folge von Picasso-Stierbildern an der Wand, neben drei japanischen Kalligrafien im Wohnzimmer der einzige Wandschmuck in ihrer Wohnung. Es faszinierte sie, wie Picasso in wenigen Schritten das Wesentliche an einem Stier herausgearbeitet, in der letzten Zeichnung mit lediglich fünf Strichen auf den Punkt gebracht hatte.
Was war das Wesentliche in ihrer Lage? Irgendwelche Leute wollten etwas von ihr, wollten sie für Zwecke vereinnahmen, die sie verabscheute. Nicht mit mir!, ärgerte sie sich. Ich tanze nicht nach eurer Pfeife! Mit einem Satz war sie aus dem Bett und marschierte erbost in einer Art Stechschritt zu ihrem Rechner. Dort begann sie nach allen möglichen Kombinationen und Teilen der Begriffe »Abu Mujahed«, »Streiter Gottes« und »Kameradschaft Achatz Hilger« im Internet zu suchen. Sogar die Serveradresse aus Achatz’ E-Mail gab sie im Browser ein: »wsgh.net«, allem Anschein nach eine Poker-Seite in China. Sie fand nichts Brauchbares. Wenigstens stellte sich das beruhigende Gefühl ein, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Es hielt nicht lange an. Eine hartnäckige Stimme in ihrem Hinterkopf wurde nicht müde zu betonen, dass etwas nicht stimmte.
Jana blähte die Backen und sah auf die Uhr: gleich halb neun. Übernächtigt machte sie sich auf den Weg zur Uni. Ihre Hoffnung, dass die Routine sie wenigstens ein bisschen ablenken würde, erfüllte sich nicht. Die erste Vorlesung zog wie ein unscharfer Film an ihr vorbei. Gegen elf verließ sie den Hörsaal und zermarterte sich das Hirn darüber, ob das unerklärliche Heißlaufen ihres Rechners etwas damit zu tun haben könnte, dass sie widerliche und an sie persönlich gerichtete Spam-Nachrichten auf ihre normale E-Mail-Adresse bekam. Schließlich war ihr Computer die einzige Verbindung zwischen der anonymen »wbi8888«-Adresse und ihrer richtigen.
Auf dem Gang kam ihr Wibke entgegen. Ihre Bekannte hatte dunkle Ringe unter den Augen wie Jana selbst. Im Gegensatz zu ihr lächelte Wibke jedoch glücklich. Die Nacht war lang und schön gewesen, schloss Jana. Schnell verwarf sie die Hoffnung, mit Wibke über ihre Probleme reden zu können. Ein andermal vielleicht, aber heute Morgen würde Wibke kaum eine Hilfe sein. Jana beschloss, sich ihr gegenüber nichts von ihren Sorgen anmerken zu lassen.
»Gott sei Dank! Du lebst noch!«, begrüßte sie ihre Freundin.
»Wieso sollte ich nicht mehr leben?« Wibke gluckste.
»Na, immerhin warst du seit gestern Abend um sechs nicht mehr online auf Whatsapp, und ans Telefon bist du auch nicht gegangen. Was ist denn los?«
»Haucke – der Grund heißt Haucke.«
»Heißt so der Knabe aus dem Hoppegarten, dessentwegen ich vorgestern mit der S-Bahn zurückfahren musste?« Es klang nach Vorwurf und so gar nicht nach dem unbeschwerten Plauderton, den sie beabsichtigt hatte. Als ob sie Wibke ihre Eroberung missgönnte. Jana gab sich einen Ruck und lächelte herzlich. »Mir scheint, es hat sich gelohnt.«
Wibke zwinkerte ihr zu. »Warum sind denn so wenige da? Sag nicht, dass ich mich zu dieser nachtschlafenden Zeit herschleppe, und die Vorlesung fällt aus.«
»Nachtschlafend? Es ist immerhin gleich elf.«
»Du hast gut reden! Obwohl, warst du nicht gestern in dieser Bar? Die machen doch sicher nicht vor zwei zu. Oder hast du es dir anders überlegt mit dem Job?«
»Gestern war das Vorstellungsgespräch. Morgen ist meine erste Schicht. Die geht bis halb zwei.«
»Bis halb zwei schuften? Mir wäre das zu stressig.«
»Ich brauche eben das Geld«, murrte Jana.
»Was ist mit deinen Eltern? Geben die dir nichts?«
Einen Moment überlegte Jana, ob sie Wibke erklären sollte, warum sie zu stolz war, ihren Vater anzubetteln, dass sie lieber bis spät nachts arbeitete und sich einschränkte, als Abstriche an ihrer Unabhängigkeit zuzulassen, da bemerkte sie einen jungen Mann, der geradewegs auf sie zukam: Nils! Sein schmales Gesicht, das spitze Kinn und die wachen, grauen Augen hinter der Nickelbrille mit den runden Gläsern hätten ihm ein professorales Aussehen gegeben. Hätten, denn mit seinem fast bartlosen Gesicht und der aschblonden Stoppelfrisur wirkte er unreif wie früher als Schüler. Weder hatte er diesen schlaksigen Gang eines Halbwüchsigen abgelegt, noch achtete er auf sein Äußeres, alles genauso wie vor zwei Jahren, als sie zusammen ihr Abitur gemacht hatten. Das reinste Kontrastprogramm zu Wibke, die selbst heute, nach einer durchgemachten Nacht, mit Pumps, Minirock, karminrotem Blazer und selbstverständlich im gleichen Farbton lackierten Nägeln elegant und wie aus dem Ei gepellt auftrat.
»Hallo, Nils«, grüßte sie tonlos. »Bist du auch auf der HU?«
»Nein, ich studiere ITM an der TU. Hier höre ich nur Ludification als Gast.«
Jana hatte keinen blassen Schimmer, was Ludification oder ITM bedeutete. Ihre Gedanken rasten, ob sie Nils Wibke vorstellen sollte oder besser nicht. Was, wenn Wibke dabei erführe, dass sie jahrelang mit ihrer Mutter in einer Sozialwohnung in einem heruntergekommenen Stadtteil Kölns gewohnt hatte? Jana spürte, dass sie rot anlief, und nestelte an ihrem Schal, um Zeit zu schinden. Nils zog seine linke Augenbraue nach oben, räusperte sich in das unerquickliche Schweigen hinein und sagte: »Ich muss zur Vorlesung – man sieht sich.« Damit ließ er die beiden Frauen stehen und ging weiter.
»Wer war das denn?«, lästerte Wibke gerade laut genug, dass Nils sie nicht hören konnte. »Bitte sag, dass du mit dem nie etwas hattest.«
Gewissensbisse flackerten in Jana auf, denn Nils ließ nie jemanden im Stich und hätte sie sicher bei niemandem verleugnet. Wibke sah sie lauernd an. Werden wir richtige Freundinnen oder sind wir ein Zweckbündnis? Du bringst mich mit interessanten Leuten zusammen, und weil zwei schöne Frauen größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als eine, nimmst du mich mit?
»Natürlich nicht«, wiegelte Jana ab. »Ich weiß nicht, ob der überhaupt schon mal eine Freundin hatte. Wir waren bloß auf derselben Schule in Köln.«
»Ist ja egal. Es gibt genug interessante Typen und auf so einen bist du glücklicherweise nicht angewiesen. Warst du schon mal bei einem Pferderennen? Nein? Das geht ja gar nicht! Freitag ist Renntag im Hoppegarten, und ich gehe mit Haucke hin. Wenn du willst, bringt er einen schicken Kollegen mit.« Wibke zwinkerte verschwörerisch.
»Mal sehen«, wich sie aus und entschloss sich, eine Lanze für Nils zu brechen. »Du unterschätzt Nils, wenn du ihn nur nach seinem Äußeren beurteilst. Der hat echt was drauf. Es gab noch kein Computerproblem, das der nicht im Handumdrehen gelöst hat, und wenn wenigstens die Hälfte der Geschichten stimmt, die über ihn in Köln die Runde machen, ist er ein Hacker, der selbst in Regierungsrechner reinkommt.«
Wibke zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Manchmal kann man so jemanden ja gebrauchen.«
In den folgenden Tagen fuhr Jana ihren Rechner nicht ein einziges Mal hoch. Ihre Seminararbeit bearbeitete sie an öffentlichen Computern der Uni. Um mit den Freunden in Kontakt zu bleiben, schnell etwas im Netz zu recherchieren, selbst um Videos zu schauen, benutzte sie das Smartphone. Einmal lugte sie via Smartphone in ihre E-Mails – 684 neue Nachrichten, die meisten von der Art, die sie überhaupt nicht sehen wollte. Am Donnerstag spät abends wollte Jana vor dem Schlafengehen nach neuen Nachrichten sehen und griff zu ihrem Smartphone. Der jüngste Eintrag auf Whatsapp stammte von jemandem, der sich Achatz nannte. Sie kannte niemanden dieses Namens, wenn man vom Absender der Neonazi-E-Mails an »wbi8888« absah. Ihre Hand zitterte, als sie die Meldung öffnete.
Jana, willst du mit uns für die gemeinsame Sache eintreten und die Ehre Deutschlands wiederherstellen?
Wo kann ich dich treffen?
HH, Achatz
Janas Herz pumpte wild. Zuerst hatte Abu Mujahed ihr auf ihre echte E-Mail-Adresse geschrieben, jetzt Achatz auf Whatsapp, wofür er ihre Telefonnummer kennen musste. Die bekamen ihre wahre Identität heraus! Sie ließ sich auf die Matratze plumpsen und krallte ihre Hände in die Bettdecke, um das Zittern in den Griff zu bekommen. Ihr war, als stünde sie auf einer riesigen Bühne, angestrahlt von Scheinwerfern, schutzlos den Gaffern ausgeliefert. War es eine Frage der Zeit, bis ein Abu Mujahed oder ein Achatz an ihrer Tür klingelte?
»Die