Markus Warken

Tödliche K. I.


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ein wenig das Gleichgewicht verlor. Der Champagner war tückisch.

      »Soll ich dir Per vorstellen?«, unterbrach Wibke ihre Gedanken und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Den kenne ich aus Hamburg. Ganz nett, schließt gerade sein BWL-Studium ab und steigt später bei seinem Vater in die Reederei ein. Er hat mich eben gefragt, wer denn meine schöne Freundin wäre. Der Gute hat uns zusammen reinkommen sehen und traut sich nicht, dich anzusprechen – weil du so unnahbar wirkst und alle abblitzen lässt.«

      Über Wibkes Schulter hinweg sah sie einen schmalgesichtigen Mann, der ihr schüchtern zulächelte. Er sah nicht schlecht aus und hatte in jedem Fall auf eine plumpe Anmache verzichtet. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die Recherche für den Vortrag zu verschieben und sich mit Per einen schönen Abend zu machen, verwarf den Gedanken jedoch sofort. Ihr Studium abzuschließen, um auf eigenen Füßen zu stehen, war wichtiger als Kontakte in die High Society. »Du, danke, ein anderes Mal gerne. Ich nehme die S-Bahn. Wollte sowieso noch etwas arbeiten, und das passt bestimmt nicht in Pers Pläne.«

      Als Jana kurz nach Mitternacht ihre Wohnung aufschloss, fühlte sie sich ausgelassen und unbeschwert. Der Schampus war ihr im Laufe der Fahrt noch mehr in den Kopf gestiegen. »… irgend so ein Schnucki mit ’ner Riesenjacht …«, trällerte sie den Ohrwurm, der sich im Hoppegarten in ihrem Kopf festgesetzt hatte, warf ihren Mantel mit Schwung auf den Haken in der Diele und ging ins Wohnzimmer. Dort klappte sie ihren Rechner auf, ließ sich auf ihren Bürostuhl plumpsen und drückte den Startknopf. Ihr war ein wenig schwindlig. Sie massierte ihre Stirn, zog die Hände bis zu den Wangen nach unten und spähte über die Fingerspitzen auf den Bildschirm. Er zeigte verschiedene Artikel zur »Fackel der Gerechtigkeit«.

      »Na, ›Fackel‹, wie bist du so drauf?« Ihre Ängste vom Nachmittag kamen ihr kleinmütig vor. Sie dachte an die gelassen zur Schau getragene Selbstsicherheit der Partygäste im Hoppegarten. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, hieß es schließlich nicht umsonst. Ja, natürlich musste sie ausreichenden Sicherheitsabstand halten. Das änderte nichts an der Tatsache, dass sie herausfinden musste, was solche Leute zu derartig abscheulichen Taten trieb. Jana griff nach der Espressotasse, die vom Nachmittag noch halbvoll neben ihrem Rechner stand. Der Kaffee war natürlich längst kalt. Es schüttelte sie, als die bittere Flüssigkeit durch ihre Kehle rann.

      »Wir gehen auf Nummer sicher.« Erfüllt von Zuversicht, das Richtige zu tun, rief sie »web.de« auf, um sich eine neue E-Mail-Adresse anzulegen. Mit einer unauffälligen Adresse bei einem der größten Anbieter kostenloser E-Mail-Kennungen würde sie kein Aufsehen erregen. Welchen Namen geben wir der Kennung?

      »Wer bin ich, ›Fackel der Gerechtigkeit‹?«, murmelte Jana. »Wer bin ich? Jedenfalls geht dich das nichts an.«

      Tante Greta sagte immer, egal ist 88, erinnerte sich Jana. Zweimal 88 ist scheißegal.

      Mit der Kennung »wbi8888« – wer bin ich? Scheißegal! – konnte sie die »Fackel der Gerechtigkeit« aus sicherer Entfernung ausforschen und herausfinden, wie er und seine Anhänger tickten.

      Das Anlegen der E-Mail-Kennung dauerte keine zwei Minuten. Die Anmeldemaske fragte nach ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrem Geburtsdatum. Jana kicherte, als sie »Joachim Müller«, »5.6.1987« und »München« eintrug.

      »Jana, du hast einen Schwips«, gluckste sie, nachdem sie die Maske fertig ausgefüllt hatte, und ließ ihren rechten Zeigefinger mit einer weit ausholenden Bewegung am gestreckten Arm auf die Enter-Taste fallen. »So, ›wbi8888‹, die Jagd kann losgehen!«

      Anschließend richtete sie sich ein weiteres Postfach auf ihrem Rechner ein, um bequemer auf die Nachrichten der neuen Mailadresse zugreifen zu können. In mehreren einschlägigen Foren stellte sie ihre Fragen und forderte die Fackel und seine Unterstützer auf, »[email protected]« Rede und Antwort zu stehen. Dann klappte sie den Rechner zu und ging schlafen. Es war Viertel nach drei, und ihr Kopf brummte nicht nur vom Alkohol.

      Als Jana am nächsten Morgen auf ihren Wecker blickte und sah, dass es schon fast elf war, war sie schlagartig hellwach. Hektisch sprang sie auf, duschte und schlüpfte mit nassen Haaren in ihre Kleider. Um zwölf war ihr Vorstellungsgespräch in der Whiskybar »Fàilte!«, wozu sie auf keinen Fall zu spät kommen wollte. Sie hatte schon den Mantel in der Hand, um hinaus in Richtung S-Bahn zu stürzen, als sie wieder an ihre Anfragen aus der letzten Nacht dachte. Hin- und hergerissen spähte sie ins Wohnzimmer, wo der Laptop zusammengeklappt auf dem Schreibtisch lag.

      »Okay, zwei Minuten«, genehmigte sie sich und flitzte zu ihrem Arbeitsplatz, um unter »[email protected]« nachzusehen, ob sich bereits etwas getan hatte. Ihr fiel auf, dass der Rechner eigenartig heiß war und der Lüfter auf vollen Touren lief. Dabei war sie sich sicher, dass sie ihn wie immer in den Bereitschaftsmodus heruntergefahren hatte. Mit fliegenden Fingern rief sie das neue Postfach auf und stellte fest, dass sie tatsächlich zwei E-Mails erhalten hatte. Ihr Herz klopfte, als sie die erste öffnete.

      von: Abu Mujahed <[email protected]>

      an: [email protected]

      Betreff: Streiter für die gerechte Sache!

      Du willst für die Sache Gottes kämpfen? Schließ dich uns an! Wer bist du? Wo wohnst du?

      Allahu akbar

      Jana schluckte. Mit so einer Antwort hatte sie nicht gerechnet. Und sie würde mit diesen Leuten ganz sicher nicht direkt verkehren, selbst wenn sie nichts in Erfahrung brächte. Mit geringeren Erwartungen öffnete sie den zweiten Eingang.

      von: Kameradschaft Achatz Hilger <[email protected]>

      an: [email protected]

      Betreff: Treffen

      Kamerad, willst du mit uns für die gemeinsame Sache eintreten und die Ehre Deutschlands wiederherstellen?

      Schließ dich uns an! Antworte auf diese E-Mail, damit wir wissen, wo wir dich treffen können.

      HH, Achatz

      Jana schüttelte den Kopf und löschte die beiden E-Mails. Sie stellte den Laptop auf Stand-by und klappte den Deckel zu. Der Lüfter schaltete auf höchste Drehzahl und pustete heiße Luft gegen ihre linke Hand, die auf der Schreibtischplatte lag. Der neue Rechner war doch nicht etwa kaputt? Um das herauszufinden, hatte sie jetzt keine Zeit. Wollte sie rechtzeitig zu ihrem Vorstellungsgespräch in der Bar sein, musste sie sich sputen.

      Als Jana die Wohnung verließ, hatte sie das merkwürdige Verhalten des Rechners schon vergessen. Auf dem Weg nach unten rief sie ihre Tante Greta an, um von ihr noch schnell so viel wie möglich über Whisky zu erfahren. Greta war die einzige Person, die sie kannte, mit der sie über Kaffee fachsimpeln konnte, und Jana wusste, dass sie auf den Gebieten Käse, Wein und eben Whisky ähnlich gut beschlagen war.

      Kapitel 3

      Samstag, 10. Oktober 2020 – Friedrichshain, Berlin

      Als Jana an der Whiskybar ankam, blieben ihr fünf Minuten Zeit bis zum vereinbarten Termin. Im spiegelnden Rauchglas der Eingangstür überprüfte sie ihr Äußeres und zupfte den Schal zurecht, mit dem sie für diesen Anlass frische Farben in ihre übliche bequem-lässige, eher schlichte Kleidung aus Kuschelpullover und Jeans brachte. Du hast genau eine Gelegenheit, einen guten ersten Eindruck zu machen, sagte Tante Greta immer. Neben der Tür hing die Getränkekarte. Jana stellte fest, dass das »Fàilte!« 117 verschiedene Whiskys, neun verschiedene Mineralwasser und drei reinsortige Kaffees führte. Entweder war das ein Laden ganz nach ihrem puristischen Geschmack oder völlig abgedreht. Sie sah auf die Uhr: zwei Minuten vor zwölf. Jana atmete tief durch und öffnete die Tür. Drinnen empfing sie eine gediegene Atmosphäre: dunkles Holz, lederne Clubsessel, Bilder von Golfspielern und Fliegenfischern.

      Das sieht nach guten Trinkgeldern aus, freute sie sich.

      »Fàilte, Jana!«, rief eine rauchige Stimme vom Tresen. »Ciamar a tha thu?«

      »Wie bitte?« Jana krauste die Stirn und spähte zur Theke, doch sie konnte niemanden entdecken. Hinter dem Ausschank stand eine Tür offen, die in einen Lagerraum führte. Sie wollte gerade