fünf Jahren seine Recherchewand zum Zentrum seiner Wohnstube entwickelt hatte, war hier alles beim Alten geblieben; das ärgerte ihn noch mehr als die Tatsache, dass sie überall ihre Trauerkluft präsentierte. Er wollte gerade die Aufnahme pausieren, da weckte eine Kommode unter dem Fenster seine Neugier.
Willy öffnete die obere Schublade und fand Knöpfe, Nähzeug und eine Sammlung hellblauer Flicken, wie sie Eva auch aus abgetragenen Jeans geschnitten hatte. Verdammte Mangelwirtschaft, dachte er. Die Schublade darunter war randvoll gefüllt mit weißen Stofftaschentüchern; jedes Exemplar schien gebügelt und anschließend fein säuberlich zusammengelegt worden zu sein. Es musste Jahre her sein, dass er das letzte Mal ein echtes Stofftaschentuch benutzt hatte. Mittlerweile kannte er so was nur aus alten Filmen, in denen Männer weinenden Frauen eins anboten oder jemand ein weißes Taschentuch zum Zeichen der Kapitulation um einen Stock wickelte. Willy zupfte ein Tüchlein heraus und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn, dann entdeckte er unter dem Stapel einen Bilderrahmen.
»Sieh dir das an«, flüsterte er. »Papa Haudrauf und sein Baby.«
Die Fotografie zeigte Jörg Berger vor einem Golf III, offenbar ein Neuwagen. Er lächelte in die Kamera, und Willy konnte leicht nachvollziehen, welche Freude er beim Kauf verspürt haben mochte. Als Willy mit Eva seinen ersten Opel gekauft hatte, waren sie spontan an die Ostsee gefahren, um dort beengt und unbequem im Auto zu schlafen. Wenn er sich nicht täuschte, hatte das Foto bei seinem letzten Besuch an der Wand über dem Sofa gehangen.
»Genau dort«, sagte er und zeigte auf eine Stelle, wo Licht und Staub ein leeres Rechteck hinterlassen hatten.
Damals waren er und sein Kollege hier teils offiziell, teils eigenmächtig aufgetaucht. Lisbeth hatte ihnen die Tür versperrt, und nachdem Willy mehrfach um Zutritt gebeten hatte, war ihm der Kragen geplatzt. Er hatte Lisbeth beiseite gegen die Wand gestoßen, was dem Kollegen später eine Aktennotiz wert gewesen war. Am Boden liegend hatte Lisbeth gebrüllt, wenn das ihr Mann wüsste, dann …
»… würde er mir die Hölle heiß machen«, flüsterte Willy und hielt das Bild direkt vor die Kamera. »Warum versteckst du den Penner in der Kommode, hä?«
Als man Papa Haudrauf samt Golf und Wodka unter einer Eisdecke im See gefunden hatte, war die kollektive Trauer ausgeblieben; die Gollwitzer schimpften ihn heute noch einen Kotzbrocken und Tunichtgut.
»Wie der Vater, so der Sohn«, stellte Willy fest und schaute sich erneut um. Es hatte sich doch einiges verändert: Gegenstände, die an Jörg Berger erinnert hätten, suchte man vergebens. Keine Fotos von ihm an der Wand, keine Automagazine auf dem Couchtisch. Bergers Videosammlung war wohl dem Röhrenfernseher in den Müll gefolgt, ebenso seine Hauspantoffeln und die unzähligen Aschenbecher. Mit flüchtiger Sorgfalt schob Willy den Bilderrahmen unter die Taschentücher, dann wischte er sich mit dem Tüchlein ein letztes Mal über die Stirn, legte es zusammen und an seinen Platz zurück. Er hetzte in die Diele und von dort die Stiege zum Dachboden hinauf.
Inzwischen erschien ihm die Situation – ein Einbrecher in Socken und Winterkleidung – nicht mehr absurd, im Gegenteil: Unter seiner Mütze rann unablässig der Schweiß herab und reizte ihm die Augen. »Meine Fresse«, knurrte er. »Wir riskieren hier Kopf und Kragen.« Er nahm die letzte Stufe und horchte angespannt in die Stille.
Nichts.
Allein das Gluckern des Schmelzwassers, das über die Dachziegel floss, und das Knarren der Dielen unter seinen Füßen. Er tapste weiter und verharrte schließlich vor der Stube, die Martin Berger bis zu seinem 20. Lebensjahr bewohnt hatte. Die Kinderstube eines Mörders.
Irgendetwas hemmte Willy, die Tür zu öffnen. Waren es Respekt oder Ehrfurcht? Oder Angst? Oft genug hatte er das Haus von seinem Wagen aus beobachtet, an die 100 Mal, vielleicht auch an die 200 Mal. Seit seiner Pensionierung verfügte er über eine Menge Zeit, und nicht wenige im Dorf meinten, es sei zu viel. In der Sekunde, in der er endlich die Klinke zu drücken wagte, spürte er mit jeder Faser seines Körpers, dass sie allesamt keine Ahnung hatten. Robert Beck nicht, Lasse Kallabis ebenso wenig und seine ehemaligen Kollegen schon gar nicht. Er würde ihnen eine Lehre erteilen, ihnen allen.
Im klaren Licht der Vormittagssonne schwebten die Flusen, die sich vom Türrahmen gelöst hatten, langsam zu Boden. Willy trat auf einen Teppich, dessen Dinosauriermotive längst verblasst waren. Unter der Dachschräge ein schmales Bett, auf der anderen Seite ein Schreibtisch und ein weißer Kachelofen. Neben dem Bett türmte sich ein Stapel Zeitschriften: Videomagazine, ein Comic über ein grünes Sumpfding, eine TV-Zeitung und ein Sexheft, das Willy bei der letzten Durchsuchung hinterm Sofa gefunden hatte. Da er es nicht für nötig gehalten hatte, das Heft an den ursprünglichen Platz zurückzulegen, waren die Brüste irgendeiner Blondine unter einer dicken Staubschicht ergraut.
Mit steifen Händen hob er die Kamera und filmte die Dachschräge. An der Holzverkleidung waren drei Schaukästen voller aufgespießter Käfer und Schmetterlinge befestigt, darunter stand ein CD-Ständer voller Eurodance-Alben. Willy besaß unzählige Listen, auf denen jedes Insekt, jeder Musiker, jedes Album mit Namen und Fotonummer vermerkt waren; vom Hirschkäfer zur Libelle, von DJ Bobo zu Ace of Base. Alles, was er in dieser Stube berühren konnte, hatte er schon einmal berührt: Gemeinsam mit seinen Kollegen hatte er das Zimmer penibel nach Beweisen abgesucht, um Martin Berger des Mordes zu überführen; am Ende hatte es allein für eine Anklage wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung gereicht.
»Wir haben’s vermasselt«, warf er sich vor und trat den Stapel Zeitschriften um. Seine Kehle fühlte sich ausgedörrt an, während ihm das Arschwasser in Strömen floss. Er fokussierte mit der Kamera das Comic, auf dessen Cover ein grünes Monster mit feuerroten Augen prangte. »Guck dir den Mist an. Einfach krank.«
Im nächsten Augenblick packte ihn ein leichter Schwindel, als würde man nach nervtötender Warterei vom Zahnarzt aufgerufen werden. Die Zeitreise forderte ihren Tribut, vielleicht auch die Aufregung oder sein Alter. Er schob die Kamera in seine Weste, suchte am Schreibtisch Halt und wollte durchatmen, aber die Luft in diesem Raum war abgestanden und tot. Aus dem Erdgeschoss drang das Knallen der Haustür, danach ein paar vage Geräusche, bis jemand brüllte: »Komm runter, du Arschloch.«
Nur keine Sorge
Von der Koloniestraße schwenkte Anna auf eine einspurige Zufahrt, stapfte über den Schnee an brachen Feldern und verdorrten Distelstauden vorbei, und sobald sich in der Ferne das Gutshaus erhob, verlangsamte sie ihre Schritte.
Die Vormittagssonne erhellte die gesamte Südfassade, verwandelte die kleinen quadratischen Fenster in silbrige Schuppen. Majestätische Pappeln flankierten das Haus, und zwischen den Stämmen sah Anna den Schwarzen See schimmern, der sich wie glänzende Tinte in die Landschaft dehnte. Eine Schar Krähen stieg aus den kahlen Wipfeln empor, flog über sie hinweg und landete auf einem der Felder; das alles ohne Gekrächze, ohne das traurige »Rak Rak«. Das Anwesen ihrer Familie lag unter einer Glocke frostiger, fast geisterhafter Stille.
Anna betrat den verschneiten Parkplatz, in den die Zufahrtsstraße mündete. Die Spuren von Rollkoffern schlängelten sich durch den Schnee, während die Frostschutzdecken auf den wenigen Autos das Sonnenlicht reflektierten. Sie zog das Handy aus ihrer Manteltasche und prüfte die Uhrzeit. Der nächste Bus nach Rathenow fuhr in einer Stunde, immerhin. Sie versuchte, sich die Entschlossenheit in Person vorzuspielen, die Unerschütterliche, die Frau mit dem Plan. Selbsttäuschung als Antrieb und Motor, das bewährte Rezept. Sie klemmte die Daumen unter die Schultergurte ihres Rucksacks und überquerte mit festen Schritten den Parkplatz.
Als Anna nach dem Tod ihrer Eltern ins Gutshaus gezogen war, hatte dieser Parkplatz noch nicht existiert. Die intakten Zimmer hatten gerade für die Familie ausgereicht, der Rest war von Vernachlässigung und Zerfall geprägt gewesen. Im Putz hatten sich tiefe Risse bis hinauf ins dritte Stockwerk verzweigt; die Fenster waren gesplittert, die Dachschindeln brüchig, und im Gebälk hatten Schwalben gebrütet und Wespen labyrinthische Nester erbaut. Ein Paradies für Kinderaugen, eine Lebensaufgabe für Tante und Onkel. Heute präsentierte sich Anna eine Fassade, die in dem gleichen Pastell erstrahlte wie die Warteräume von Therapeuten und Zahnärzten.
»Nur keine Sorge«, hörte sich Anna sagen, »bei