am See
Inhaber: Stephan & Helene Majakowski
An der Stelle, wo früher eine Türklinke gesteckt hatte, krümmte sich nun ein senkrechter Griff aus Edelstahl; zweifellos waren ihr Onkel und ihre Tante geschmacklich in den 90ern hängengeblieben. Anna streifte ihre Handschuhe ab, und kaum dass sie das kühle Metall berührte, musste sie über ihre eigene Naivität den Kopf schütteln. Hatte sie tatsächlich geglaubt, die Zeit wäre hier stehengeblieben, eingefroren im Jahr 1995? Es kam ihr so vor, als hätte sie die wenigen Besuche seit ihrem Auszug unter dem Einfluss von Drogen oder Medikamenten hinter sich gebracht: der 50. Geburtstag ihres Onkels und später das Fest zum 50. ihrer Tante. Oder der spontane Überfall, als sie sich mit Paul im ewigen Liebesglück geglaubt hatte, ein Liebesglück, das die Vergangenheit und die Entfremdung zwischen ihr und ihrer Familie zu überstrahlen imstande gewesen war. Ein Liebesglück von allzu kurzer Dauer. Dem ersten Streit war die Einsicht gefolgt, dass selbst der kleinste Riss im Herzen einen größeren freizulegen vermochte. Für Anna gab es eben kein zack, zack und alles rein. Sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln, atmete durch und öffnete mit einem Ruck die Tür.
Im Foyer surrte die Heizung vor sich hin; auf dem roten Läufer die Abdrücke nasser Schuhsohlen. Die Sessel, die schon früher hier gestanden hatten, waren mit neuen lachsfarbenen Stoffen bezogen; in einem Prospekthalter klemmten Flyer, Broschüren und eine Sternkarte. Durch eine Schwingtür gelangte Anna in einen dämmrigen Speisesaal, und auch dieser Raum war menschenleer. Nachdem sie ihren Rucksack auf einem der vorderen Stühle bugsiert hatte, entdeckte sie am Ende des Saals den Wintergarten – der Neubau, von dem Danny Schmidt mit unverhüllter Missgunst gesprochen hatte. Sie lief an der Bar und den Tischen vorbei und blieb nahe der offenen Glastür stehen.
Zehn, bestenfalls fünfzehn Gäste nahmen gerade ihr Frühstück ein. Zwei Kinder fischten mit demonstrativer Ekelmiene die Pelle von ihrem Kakao; die übrigen Gäste mochten um die 50 oder älter sein. Ein Kerl schaute grimmig von seiner »MAZ« auf, als würde ihn Annas bloße Gegenwart am Lesen hindern; am Nachbartisch eine ältere Dame, die so selbstvergessen in die Landschaft starrte, dass es fast verdächtig wirkte. An einem größeren Tisch plauderten zwei Pärchen in ungehemmter Lautstärke, als würden sie ihre Geselligkeit lediglich vortäuschen. Unter Annas Nervosität gärte ein Gefühl der Scham; sie hatte den Eindruck, sämtliche Gäste wüssten, wer dort an der Glastür stand. Anna Majakoswki, die einzige Überlebende der Brandnacht. Das ewig zwölfjährige Mädchen.
Instinktiv trat sie in den Speisesaal zurück und verharrte im Halbschatten. Sie spähte über die Gäste hinweg nach draußen, und allein die Aussicht auf den See machte ihr deutlich, dass sie fort wollte, nicht nur von diesen Menschen, sondern von allem. Sie sollte nicht hier sein, denn das war kein namenloser See in Brandenburg, keine beliebige Villa im Havelland. Hast du toll gemacht, sagte sie sich. Typisch Anna. Sie versuchte ihre Unsicherheit mit einem Blick aufs Handy zu bekämpfen. 10. 25 Uhr. Mindestens drei Busse fuhren heute noch nach Rathenow.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Anna wandte sich um und erkannte das Gesicht ihres Cousins. David Majakowski. Sie starrten einander an, als hätte keiner von ihnen die passende Reaktion parat. Ihr Anblick schien seine Gesichtszüge förmlich einzufrieren, allerdings konnte sie nicht sagen, ob vor Erstaunen oder Entsetzen. Das Gemurmel der Gäste und das Klirren des Bestecks rückten in den Hintergrund; zwischen ihnen nur Platz für Stille.
Ein Mädchen rennt mit einem Teddy im Arm die Stiege empor, die Wangen glühen vor Scham, denn weder die Beichtbriefe aus der »Bravo« noch die geheimen Runden mit den Freundinnen haben es auf ein solches Geschenk vorbereitet; und das Mädchen durchquert den langen Flur und eilt in die Stube, wo es den Teddy aufs Bett stellt, ganz nahe am Kopfkissen, sodass sie einander beschützen können, das Mädchen den Teddy und der Teddy mit seinen riesigen braunen Glasaugen die zwölfjährige Anna.
David öffnete seine Arme, machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Er war einen Kopf größer als sie und in dem Alter, das ihr Bruder heute gehabt hätte. Mit der Linken fuhr er ihr über den Rücken, einmal, zweimal, dann schob er sie sachte von sich, und in seinen Mundwinkeln formte sich ein Grinsen. Davids Grinsen, Davids Lächeln. Ein Ausdruck, der sie schon in ihrer Kindheit verhext hatte und der sie wieder zur kleinen, unreifen Cousine werden ließ.
»Mannometer«, sagte David, und gleich danach folgte jene Frage, vor der sie sich seit ihrer Abreise gefürchtet hatte. »Was machst du denn hier?«
Rosarote Schwäne
»Darauf hab ich lange gewartet!«, rief sie die Stiege hoch.
»Ich dachte, du wartest auf Martins Heimkehr?«
»Halt bloß den Rand, Willy.«
Während er die Treppe auf Socken hinabstieg, trug Lisbeth Stiefel und Lederjacke. In ihrer Faust hielt sie ein matt glänzendes Beil.
»Dir liegt das Rumschnüffeln wohl im Blut?«, fragte sie. »Oder bist du in deiner Horch-und-Guck-Zeit hängengeblieben?«
»Ich dachte, das wäre dein Verein gewesen.«
»Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten.«
Sie schlug mit dem Beilnacken so kräftig gegen das Geländer, dass er auf der Stelle stoppte. »Hopp, Hopp«, drängte sie, und noch bevor er die unterste Stufe erreichte, machte sie einen Schritt zurück. »Bleib bloß auf Abstand, sonst wird’s schmutzig.« Sie hob das Beil und grinste humorlos. »Los, in die Küche. Hopp, hopp.«
Als Willy die Diele durchquerte, konnte er nirgends seine Schuhe entdecken; sie musste das Paar weggeschafft haben, womöglich hatte sie es in den Ofen gefeuert. Der Hexe war alles zuzutrauen, und ihm kam der Gedanke, auf Socken abzuhauen, querfeldein zu seinem Auto.
»Falls du deine Botten suchst«, sagte sie, »die stehn am Ofen.«
»Hast wohl kein Holz mehr?«
Lisbeth hob das Beil und dirigierte ihn auf die eingebaute Bank hinter dem Tisch. Die Sitznische war bis auf Brusthöhe mit dunklem Holz vertäfelt, darüber hingen Bilder von Engeln und rosaroten Schwänen. Willy nahm Platz und entdeckte sogleich seine Schuhe; sie lehnten hochkant am Küchenofen, als hätte er sie selbst dort hingestellt. Der Tisch war mit einer Wachstuchdecke drapiert, und in der Mitte stand ein Glas, randvoll mit Treuepunkten vom Netto. Er hatte sich immer gefragt, wer solche Punkte sammelte und was es dafür geben mochte. Neben dem Glas lag das aktuelle Prospekt, Lisbeths Morgenlektüre. Er lehnte sich zurück, schob seine Hände in die Westentaschen, sodass die Daumen hervorlugten, und bemühte ein Dauergrinsen. »Willst du mir jetzt die Finger abhacken?«
»Das würde dir gefallen, nicht wahr?«
»Ich glaub, du schnallst nicht, wie tief du im Schlamassel steckst.«
»Ach, hör auf, Willy.«
Lisbeth entfachte das Gas, setzte Wasser auf, und das Beil blieb stets in Griffnähe. Mit ihren 63 Jahren besaß sie garantiert noch ein flinkes Händchen; immerhin sorgte sie seit geraumer Zeit für sich allein, hielt selbstständig Haus und Hof instand. Willy wusste, was das hieß: Man rückte die Dinge gerade, ohne dass jemand einem aus Dank oder Respekt auf die Schulter klopfte. Risse wurden gekittet, da es notwendig war, und nicht, weil es einem den Schlaf raubte oder andere mit dem Finger drauf zeigten. Verpflichtungen hielten einen am Leben, machten das Alleinsein erträglich. Nicht ohne Eifersucht dachte er daran, dass das alles für Lisbeth bald ein Ende haben würde.
Nachdem sie zwei Tassen mit Kaffeepulver gefüllt hatte, erklärte sie:
»Ich bin keine dumme Schachtel. Ich kenn deine Tour.«
»Welche Tour denn?«, fragte Willy.
»Das weißte doch am Besten.«
»Ich? Ich weiß gar nichts.«
»Du würdest dich freuen, wenn ich dir ’nen Finger abhacke. Dann könntest du deine Griffel überall rumzeigen wie ’ne dreischwänzige Katze.« Sie trat in den Raum, hob ihre Hand und knickte den Ringfinger weg. »Seht mal, das war die Berger. Die hat wohl am Blitz geleckt.« Sie trat an den Tisch