Ulrike Renk

Seidenstadt-Schweigen


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dachte kurz nach, wählte eine andere Nummer.

      »Fischer, KK 11 Krefeld. Könnt ihr mal überprüfen, ob ein Heinz Schröter noch einsitzt? Er ist vor drei Jahren wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.« Während Fischer auf eine Antwort wartete, zündete er sich eine Zigarette an. Es war erst die dritte an diesem Tag. Seit einiger Zeit bemühte er sich ernsthaft, seinen Nikotinkonsum zu verringern.

      »Fischer, hörst du? Heinz Schröter hat am 4. Mai 2004 in Münster Lebenslänglich bekommen. Mord zum Nachteil von drei Jugendlichen. Meinst du diesen Schröter?«

      »Ja.«

      »Er hat die Haft hinter sich.« Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte rau.

      »Wie bitte? Er ist entlassen worden? Der Mann ist ein Psychopath.«

      »Die Strafe war lebenslang. Er ist in der Haft verstorben. Vor genau drei Wochen.«

      »Verstorben?« Fischer zog noch einmal heftig an seiner Zigarette, drückte sie dann im Aschenbecher aus.

      »Jürgen?« Siegfried Brüx schaute in Fischers Büro. »Du brauchst mich?«

      Fischer nickte, beendete dann das Telefonat mit einer Floskel. »Ich habe einen Brief bekommen. Einen anonymen Brief.«

      »Eine Drohung?«

      »Wie man es nimmt. Es ist eine Postkarte, nicht beschriftet. Sie steckte in diesem Umschlag.« Fischer deutete auf seinen Schreibtisch. »An mich persönlich adressiert, maschinengeschrieben, kein Absender.«

      »Eine nicht beschriebene Postkarte ist für dich eine Drohung?«

      »Vielleicht eher eine Warnung. Ich habe diese Art von Karten schon mal bekommen. Vor ein paar Jahren, während wir wegen einer scheußlichen Mordserie ermittelt haben.«

      »Und?«

      »Der Absender war der Täter. Wir haben ihn gefasst und er wurde verurteilt. Lebenslang.«

      »Und nun hat er dir aus der Haft eine Karte geschickt?«

      »Er ist in der Haft verstorben.« Fischer stand auf, streckte sich.

      »Und wer hat dir jetzt die Karte geschickt? Ich versteh’s nicht.« Brüx trat an den Schreibtisch.

      »Da geht es dir nicht anders als mir. Bitte lass die Karte untersuchen. Fingerabdrücke, DNA, was auch immer ihr finden könnt. Ich werde die alte Akte aus Münster anfordern, dann können wir vergleichen.«

      Nachdem Siegfried Brüx die Karte und den Briefumschlag mit einer Pinzette in eine Spurentüte geschoben und beides mitgenommen hatte, setzte Fischer sich wieder.

      Heinz Schröter war tot und doch war die Karte von der Art, wie Fischer sie früher im Rahmen des Falles schon bekommen hatte. Was konnte das bedeuten? Es hatte damals nur einen Täter gegeben, er hatte keine Helfer, keine Komplizen. Er hatte seinerzeit mit der Kripo gespielt, sich für schlauer gehalten und nur durch einen Zufall hatten sie ihn fassen können. Während der Verhandlung hatte er geschwiegen, aber Fischer nicht aus den Augen gelassen. Dabei hatte Fischer die Mordkommission nicht geleitet, sondern war nur ein Mitglied gewesen.

      Schon damals hatte Jürgen Fischer die Handlungsweise nicht verstanden, die heutige Post verstand er noch weniger.

      War der Brief wirklich heute angekommen? Er lag zwischen zwei Akten, die Fischer schon eine Weile auf dem Tisch hatte. War der Umschlag dazwischen gerutscht und schon vor einiger Zeit angekommen? War es möglich, dass Schröter ihn aus der Haft geschickt hatte?

      Was, wenn nicht?

      Bei dem zurückliegenden Fall hatte der Täter seine jungen Opfer tagelang in seiner Gewalt und quälte sie entsetzlich. Immer kurz nachdem Schröter eine Postkarte an Kommissar Fischer geschickt hatte, brachte er sein Opfer um.

      Die Postkarte war wie ein Déjà-vu. Würde nun wieder ein unschuldiger Mensch grausam sterben?

      Fischer schauderte. Wieder griff er nach dem Telefon.

      »Klaus, hier ist Jürgen Fischer. Ich brauch mal ein paar Daten, und zwar bundesweit. Wird irgendwo ein Junge vermisst? Ein Junge aus der Callboyszene? Nicht älter als 18?«

      »Bundesweit?«

      »Vor allem hier in der Gegend und in Münster. Vielleicht ist ja jemand aus dem Heim oder aus einer Wohngruppe verschwunden.«

      »Vage Angaben, Jürgen.«

      »Ich weiß.« Seufzend legte Fischer auf, zündete sich die vierte Zigarette des Tages an. Er fühlte sich unruhig. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich immer noch die unbearbeiteten Akten und der Urlaub rückte näher.

      2. Kapitel

      1939

      Fritz räumte seine Sachen in den Holzspind, strich die Hemden glatt, legte sie Kante auf Kante. Dann schaute er sich in dem Zimmer um. Es war Anfang Februar und bitterkalt. Er rieb sich die Hände. Noch war keiner außer ihm auf der Stube.

      Nach den sechs Monaten beim Reichsarbeitsdienst waren die Muskeln des 19-Jährigen gestählt. Sein Gesicht hatte die Farbe von Nussholz. Die kurzen Haare, die er gescheitelt trug, waren ausgebleicht. Er strich sich über den Kopf. Heute würde sein Wehrdienst beginnen, dem er schon vor seinem Abitur im letzten Jahr entgegengefiebert hatte.

      Er war gestern Abend mit dem Zug in Berlin angekommen, hatte eine kurze Nacht bei seiner Tante verbracht und war dann mit der S-Bahn zur Kaserne nach Stahnsdorf gefahren.

      Noch war das Dachgeschosszimmer mit den sechs Etagenbetten leer. Er schaute sich um. Der Dielenboden war gebohnert, doch jedes Mal wenn ein schweres Fahrzeug vorbeifuhr, rieselte Staub aus dem Gebälk.

      Fritz stellte sich an das kleine Gaubenfenster und schaute nach draußen. Es hatte begonnen, sachte zu schneien.

      Vorgestern hatte seine Mutter ihn zum Abschied umarmt, etwas, was ihm peinlich war. Sie schmierte ihm Stullen für die Fahrt und gab ihm ein Paket mit.

      »Da ist Schinken drin. Und dicke Socken. Pass auf dich auf, mein Junge.« Sie rieb eine Träne in ihre Wange. Fritz schaute zur Seite, wusste nicht, was er sagen sollte.

      Sein Vater war unterwegs, um die neue Stoffkollektion der Weberei anzubieten. Er würde erst am Wochenende wieder zu Hause sein. Bevor er gefahren war, hatte er Fritz eine neue Armbanduhr geschenkt. Sie war nur vergoldet und Fritz schämte sich, sie zu tragen. Die Geschäfte der Weberei liefen schlecht. Die größeren Konkurrenten und die Verseidag nahmen ihnen die Kunden weg. Wenn es so weiterging, würde sein Vater schließen müssen.

      »Es wird Krieg geben, Fritz«, sagte sein Vater zum Abschied. »Sieh zu, dass du dich unauffällig verhältst, deinen Dienst schnell ableistest und dann wieder nach Hause kommst. Ich brauche dich hier im Geschäft.«

      Im Geschäft zu arbeiten war das Letzte, was Fritz wollte. Trotzdem fühlte es sich komisch an, das erste Mal so weit weg von zu Hause.

      »Heil Hitler!«

      Überrascht drehte Fritz sich um. Er hatte nicht gehört, dass die Tür geöffnet wurde.

      »Heil Hitler!«, grüßte er zackig zurück. Er war schon lange bei der Hitlerjugend, ihm lag das Militärische.

      »Heinrich«, stellte sich der Neue knapp vor. Er trug einen Mantel aus rauer Wolle. Schlechte Qualität, das sah Fritz auf den ersten Blick. Statt eines Koffers hatte er nur einen Pappkarton. Ohne zu fragen, schmiss er diesen auf das Bett, das an der Wand in der Nähe der Heizungsrohre stand. Eigentlich hatte Fritz diese Pritsche haben wollen, aber er war sich nicht sicher, ob sie freie Wahl hatten oder ob ihnen die Betten zugeteilt wurden. Doch wenn Heinrich sich einfach eines aussuchte, wollte er nicht nachstehen. Er nahm das Bett am anderen Ende des Zimmers. Als Neulinge mussten sie mit dem Dachgeschoss vorliebnehmen. Im Sommer stand hier die Hitze, im Winter schneite es durch die Dachpfannen, hatte man ihm erzählt.

      »Wann sollen wir uns melden?«, fragte der andere.

      »Um acht«, antwortete Fritz. Er fand Heinrich auf