… ich konnte einfach alles nicht mehr ertragen. Ich wollte niemanden sehen«, stieß Raphael hervor.
»Das kann ich gut verstehen. Aber du weißt, dass du dich dessen, was ich dir gesagt habe, nicht zu schämen brauchst.« Johanna ließ sich neben ihm nieder.
Raphael schniefte. »Ich weiß. Und irgendwie finde ich das auch gar nicht so schlimm. Viel schlimmer finde ich, dass Mutter mich all die Jahre über angelogen hat.«
»Es fiel ihr nicht leicht, Raphael, das kannst du mir glauben. Wir haben oft darüber gesprochen.«
Raphael starrte sie an und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Alle habt ihr mich angelogen. Alle. Ihr habt es alle die ganze Zeit über gewusst.« Er sprang auf und sah auf Johanna herab.
»Ich habe gedacht, du bist ehrlich zu mir«, sagte er wütend und kletterte vom Felsen herunter.
Johanna hatte Angst, dass Raphael wieder davonrennen könne. »Lass es dir bitte erklären«, bat sie leise.
»Was gibt es denn da noch zu erklären?«, fragte Raphael trotzig. »Ihr habt mich angelogen. Alle.«
»Ich verstehe deine Enttäuschung«, versicherte Johanna. »Aber bitte, gib mir eine Chance.«
Es beeindruckte Raphael, dass Johanna mit ihm wie mit einem Erwachsenen redete. Dass sie ihn um etwas bat und es ihm nicht einfach befahl, wie so viele andere das taten. Er wurde wie ein Erwachsener behandelt. Also würde er sich auch wie einer verhalten, beschloss der Junge. Andererseits wollte er Johanna seine Bereitwilligkeit nicht allzu deutlich zeigen.
»Gut«, erklärte er mürrisch. Er kletterte wieder auf den Felsen, aber nun drehte er Johanna den Rücken zu.
»Deine Mutter wollte es dir irgendwann sagen«, begann Johanna. »Sie wusste nur nicht so recht, wann. Eine Zeit lang hat sie sich überlegt, dich damit aufwachsen zu lassen. Sie hat dir ja auch eine ganze Weile lang Französischunterricht gegeben, erinnerst du dich?«
Raphael nickte ungeduldig. »Und warum hat sie es mir dann nicht gesagt?«
»Es wäre zu gefährlich gewesen. Wir hatten Krieg, und wenn du da plötzlich jemandem erzählt hättest, dass dein Vater Franzose ist, hätte dir das schlecht bekommen können.«
»Aber nach dem Krieg …«
»Auch nach dem Krieg waren die Leute nicht unbedingt gut auf die Franzosen zu sprechen. Deine Mutter hatte Angst, dass man dir das Leben schwer machen würde, wenn es jemand erführe.«
»Sie hätten es nicht erfahren müssen. Es hätte gereicht, wenn sie es mir gesagt hätte.«
»Du hättest es weitererzählt. Du warst ja noch klein. Man kann von einem vierjährigen Kind nicht erwarten, dass es über so eine Neuigkeit schweigt.«
»Und als ich größer wurde?«
»Als du größer wurdest, bekamst du mit, dass die Franzosen … sehr unbeliebt sind. Deine Mutter fürchtete, es würde dich zu sehr belasten.«
»Aber irgendwann musste sie es mir doch sagen. Mein Vater lebt! Das hätte sie doch nicht ewig geheim halten können.«
»Sie hoffte immer, dass sich die Situation entspannen würde. Einmal sprach sie davon, es dir zu sagen, wenn du acht Jahre alt bist. Aber dann kam die Ruhrbesetzung und die Lage verschärfte sich.«
»An meinem achten Geburtstag …«, sagte Raphael nachdenklich, »das wäre im Mai.«
»Ja«, antwortete Johanna. »Aber nun ist das Ruhrgebiet besetzt. Sie hätte es dir wohl auch im Mai nicht gesagt.«
»Und ihr anderen? Warum habt ihr es mir nicht gesagt?«
»Das ist allein ihre Sache.«
Raphael nickte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Die ganze Stadt wusste es!«, klagte er. »Nur ich nicht.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Johanna. »Wir wissen wirklich nicht, wie sie es erfahren haben. Nur die Familie wusste davon. Bis vor Kurzem.«
»Ich will hier nicht mehr sein. Nicht, nachdem sie mich so behandelt haben.« Raphaels Stimme zitterte.
»Wir hielten es auch für das Beste, wenn deine Mutter mit dir aus Überlingen fortgehen würde«, sagte Johanna sanft.
Raphael stiegen wieder die Tränen in die Augen. Er wollte von hier weg, doch auf der anderen Seite schmerzte ihn der Gedanke, das Haus seiner Kindheit verlassen zu müssen. Hier waren seine Freunde. Aber … hatte er denn noch Freunde? Er kam sich mutterseelenallein vor.
»Was sagst du dazu?«, drängte Johanna.
Raphael zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Irgendwie – auch wenn du mir das jetzt alles erklärt hast, bin ich immer noch böse auf Mutter. Auf euch andere nicht. Nur auf sie.«
»Du musst versuchen, sie zu verstehen.«
»Ich will nicht mit ihr zusammen sein«, sagte er heftig.
»Raphael, du musst lernen zu verzeihen. Sie wollte nur das Beste für dich.«
Der Junge schwieg. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Was, wenn mein Vater so einer ist, der auf die Menschen schießt?«, fragte er bang. »Ich finde ja auch, dass es nette Franzosen gibt. Aber es gibt auch sehr böse, die Leute töten.«
»Das sind die Wenigsten«, beruhigte Johanna. »Und dein Vater ist bestimmt nicht so einer.«
»Woher weißt du das?«
»Weil deine Mutter meine beste Freundin ist und wir schon viel zusammen erlebt haben. Ich kenne sie. Sie hätte sich nicht mit einem bösen Menschen eingelassen.«
»Ja, das stimmt.« Doch Raphael war nur für einen Moment beruhigt. Dann sagte er: »Aber sie hat mich ja auch angelogen. Das hätte ich nie gedacht, dass sie das tun würde.«
In diesem Moment hörten sie Sophies laute rufende Stimme: »Raphael, Johanna? Wo seid ihr?«
Raphael zuckte zusammen. »Ich will sie nicht sehen«, zischte er.
»Raphael!«
Der Junge machte Anstalten, den Felsen hinunterzuklettern. Johanna hielt ihn fest. »Sei vernünftig.«
»Immer soll ich vernünftig sein«, schimpfte Raphael, plötzlich bockig.
Wenn Sophie doch nur verschwinden würde, dachte Johanna wütend. Wenn er jetzt davonläuft, ist das ihre Schuld. Aber Sophie hatte sie inzwischen erspäht und kam immer näher.
»Raphael, bitte, tu es für mich«, flehte Johanna.
Raphael, der inzwischen den Felsen schon fast ganz heruntergeklettert war, hielt inne und drehte sich um.
»Bitte«, wiederholte Johanna eindringlich.
Der Junge sah zu ihr auf. Er wollte ihr diese Bitte nicht abschlagen. Er konnte es nicht.
»Also gut.« Entschlossen kletterte er den Felsen wieder herauf.
Sie saßen dicht nebeneinander und sahen Sophie entgegen. Schließlich stand sie schwer atmend neben ihnen auf dem Felsen.
»Raphael«, sagte sie leise und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus.
Doch er wandte sich heftig ab. »Komm, Johanna, wir gehen nach Hause.«
Sophie stand mit hängenden Armen da und die Tränen traten ihr in die Augen. Noch nie hatte er sie so zurückgewiesen.
Johanna drückte ihr aufmunternd die Hand, als sie an ihr vorbeiging. »Das wird schon wieder«, flüsterte sie. »Er muss erst mal damit fertig werden. Und jetzt komm, dass er uns nicht wieder davonläuft.«
Johanna und Sophie folgten Raphael durch die finstere Nacht nach Hause.
25. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 28. Februar 1923
»Du bist wahnsinnig, Sophie. Du