Eva-Maria Bast

Kornblumenjahre


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berichtete jedenfalls der Klassenlehrer. Er hat mich dann gleich geholt.«

      »Oh nein«, flüsterte Johanna. »Also doch. Der arme Junge.«

      »Ich habe es auch schon befürchtet«, gestand Friedrich. »Aber ich habe mich damit zu beruhigen versucht, dass ich mir sagte, die Leute können nicht so blöd sein, ihre Kinder in diese Angelegenheit mit hineinzuziehen.«

      »Aber wusste Raphael denn überhaupt, wie ihm geschah? Ich meine, er denkt doch bis heute noch, dass sein Vater ein deutscher Soldat war, der im Krieg gefallen ist.«

      »Nein, er versteht die Welt nicht mehr.«

      »Was soll jetzt nur werden?«, flüsterte Johanna hilflos.

      »Die Sache ist klar«, erklärte der alte Schuldirektor. »Sophie muss mit dem Jungen die Stadt verlassen.«

      »Aber wenn sie nicht will?«

      »Sie wird. Verlass dich drauf«, beharrte Direktor Seiler grimmig. »Ich werde nicht zulassen, dass sie sich und meinen Enkel aus purem Trotz in Gefahr bringt.«

      Johanna schwieg und dachte an Raphael.

      »Und was wird aus dem Jungen?«, fragte sie schließlich. »Ich meine, er muss jetzt die Wahrheit erfahren und diese wird ihn treffen wie ein Schlag.«

      »Er ist nicht feindlich gegen die Franzosen eingestellt. Er hat nur ein paar Mal die Sprüche der anderen nachgeplappert.«

      »Das nicht, aber nur, weil wir es nicht sind. Von der Außenwelt bekommt er immer wieder eingetrichtert, wie schlecht sie sind.«

      »Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn du mit ihm reden würdest«, sagte Friedrich nachdenklich. »Raphael vertraut dir und du hast eine bemerkenswerte Fähigkeit, solche Gespräche zu führen.«

      »Du meinst, ich soll ihm beibringen, dass …«

      »Ja.«

      »Vielleicht hast du recht«, lenkte Johanna ein. »Sophie ist zu sehr in diese Geschichte verwickelt.« Sie straffte die Schultern. »Ich werde mit ihm reden. Aber nur mit Sophies Segen. Ich werde sie fragen.«

      »Tu das«, sagte der alte Schuldirektor. »Aber erst gehe ich zu ihr.«

      Johanna starrte ihm nach, wie er das Haus betrat und mit schweren Schritten die Treppe hinaufging. Mit einem Mal stieg Ärger in ihr auf. »Warum muss immer ich die schwierigen Gespräche führen?«, murmelte sie wütend. »Gerade erst habe ich das mit Sophie hinter mich gebracht und jetzt steht schon wieder eines an … Ich weiß nicht, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich ganz schön ausnutzen lasse.«

      19. Kapitel

      Essen, Ruhrgebiet, 5. Februar 1923

      Der Offizier Pierre Didier war erst seit zwei Tagen als französischer Besatzer im deutschen Ruhrgebiet, als er schon das Gefühl hatte, es nicht länger ertragen zu können. Weder die verachtungsvollen Blicke, die ihm die deutschen Bürger zuwarfen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, noch die Schilder, die in den Schaufenstern der Läden und Cafés hingen und auf denen stand: ›Franzosen werden hier nicht bedient.‹ Als er das letzte Mal in Deutschland gewesen war, war er als interessierter Berichterstatter, als Journalist, gekommen und als Liebender gegangen. Ein deutsches Mädchen hatte er geliebt, Sophie, seine Sophie. Und nun kam er als Feind, als Mitglied der Besatzungsmacht. Nach dem Krieg hatte er mit der Naivität eines Liebenden gedacht: Jetzt ist alles gut. Jetzt werde ich sie bald wiedersehen, meine geliebte Sophie. Obwohl er soeben erst geheiratet hatte und seine Frau schwanger war, war er optimistisch gewesen. Er hätte wissen müssen, dass es nicht einfach werden würde. Ihm hätte klar sein müssen, dass der Krieg zu viel zerbrochen hatte, als dass es wieder eine Normalität geben könnte. Wird denn niemals wieder Frieden einkehren?, fragte Pierre sich verzweifelt.

      Er ertrug die feindselige Ablehnung der Deutschen nicht und er ertrug auch die Anweisungen seiner Regierung nicht, hart gegen die Bevölkerung vorzugehen und auf Demonstranten zu schießen. Erst gestern hatte er Befehl erhalten, eine Gruppe demonstrierender Deutscher auseinanderzutreiben. Mit Gewalt. Mit Artillerie. Er hatte nicht geschossen, er hatte es einfach nicht gekonnt. Aber seine Kameraden hatten gefeuert, und Pierre hatte gesehen, wie ein Schüler, der höchstens elf Jahre alt war, blutend zusammenbrach. Er hatte gedacht: Der Junge war vielleicht drei Jahre alt, als hier alles noch in Ordnung war, als ich noch in Frieden in diesem Land lebte und von der Bevölkerung zuvorkommend und freundlich behandelt worden bin. Zwar waren die Deutschen und die Franzosen auch damals keine Freunde gewesen, aber sie gingen wenigstens einigermaßen zivilisiert miteinander um. Wie hatte sich die Welt doch verändert! Und vor allem – was brachte das alles? Die Deutschen hatten nach der Besetzung des Ruhrgebietes ihre Kohlelieferungen an Frankreich vollständig eingestellt und die französische Regierung somit genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte.

      Er dachte an die Frau, die er vor neun Jahren das letzte Mal gesehen hatte und die auch zu der Bevölkerung gehörte, die nun unter der Besetzung zu leiden hatte. Und er hoffte, dass sie sich nicht der allgemeinen Stimmung angeschlossen hatte. Dass sie ihn nicht hasste. Er würde seinen Plan, sie zu suchen, in die Tat umsetzen, beschloss er.

      Aber durfte er das denn? Würde er sie damit nicht nur unnötig in Gefahr bringen, jetzt, da der Franzosenhass so hohe Wellen schlug? Er hatte von deutschen Frauen gehört, die von der aufgebrachten Bevölkerung beinahe massakriert worden waren, weil man sie mit Franzosen gesehen hatte.

      Aber er hatte jahrelang auf diese Chance gewartet.

      Ja, er würde sie suchen, seine Sophie.

      20. Kapitel

      Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923

      Johanna hämmerte an Raphaels Zimmertüre. »Raphael, bitte, mach doch die Tür auf!«

      Der Junge antwortete nicht und es war nur lautes und verzweifeltes Schluchzen zu hören.

      »Bitte, Raphael, lass uns darüber reden.«

      Oh nein, dachte Johanna, als wieder keine Antwort kam, was soll ich nur tun?

      »Raphael, ich möchte dir doch helfen!«, rief sie flehend.

      Das Bett knarrte, und Johanna hörte, wie Raphael durch das Zimmer zur Tür ging. Der Schlüssel wurde herumgedreht und dann stand der Junge vor ihr.

      Es schnitt Johanna ins Herz, als sie sein verzweifeltes kleines Gesicht sah. »Darf ich hereinkommen?«, fragte sie vorsichtig.

      Raphael nickte schniefend und trat einen Schritt zurück.

      Johanna ging ins Zimmer und ließ sich auf seinem zerwühlten Bett nieder.

      »Komm«, sagte sie, »setz dich neben mich.«

      Raphael folgte der Aufforderung. Er saß sehr aufrecht, fast steif, und war sichtlich um Fassung bemüht.

      »Möchtest du mir davon erzählen?« Johanna achtete darauf, den Jungen nicht anzusehen oder zu berühren.

      Raphael schwieg und starrte auf seine Fußspitzen. »Warum haben sie das getan?«, fragte er schließlich so leise, dass Johanna Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich gehöre doch dazu. Warum sind sie über mich hergefallen? Sie sind böse. Kennen sie denn die Franzosen überhaupt, dass sie so über sie schimpfen?«

      In Johannas Kopf arbeitete es fieberhaft. Wie sollte sie es Raphael nur beibringen? Sie musste es ihm so sagen, dass er nicht das Gefühl bekam, es sei eine Schmach.

      »Menschen, die so etwas tun, sind dumm«, sagte sie schließlich hilflos. »Die Franzosen sind nicht schlecht.«

      »Das weiß ich«, sagte Raphael. »Aber in der Schule schimpfen alle auf sie.«

      »Im Moment verstehen sich die Franzosen und die Deutschen nun mal nicht so gut«, erklärte Johanna ruhig. »Aber das macht weder sie noch uns zu schlechteren Menschen. Ich streite mich auch manchmal mit jemandem, ohne dass ich dadurch gleich zu einem Bösewicht werde.«

      Raphael schwieg nachdenklich. »Stimmt«, sagte