setzte sich neben Sophie. »Wie geht es Ihnen?«
»Mein Kopf …«
»Ist Ihnen übel?«
»Ich glaube schon.«
»Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Sie müssen in der nächsten Zeit das Bett hüten.«
»Aber was ist denn passiert?«
»Erinnern Sie sich an gar nichts?«
Sophie schien angestrengt nachzudenken.
»Zwingen Sie die Erinnerung nicht herbei«, riet Dr. Schilling, »Sie brauchen Ruhe.«
»Doch, ich erinnere mich. Es war unheimlich. Ich hörte Geräusche. Dann klirrte das Fenster … Raphael …«, sie fuhr auf und sank gleich darauf mit einem Stöhnen wieder zurück auf den Boden. »Was ist mit meinem Sohn?«
»Raphael schläft. Es geht ihm gut«, versicherte Sebastian.
»Gott sei Dank!« Sophie atmete auf. »Was geschah, nachdem das Fenster zerbrochen ist?«, fragte sie. »Ich erinnere mich nicht.«
»Das wissen wir auch nicht«, sagte Dr. Schilling und warf den anderen einen warnenden Blick zu.
»Hat Raphael denn nichts gesagt?«
In diesem Moment kam Johanna mit dem Waschlappen zurück und benetzte Sophie die Lippen.
Sophie leckte das Wasser gierig ab.
»Hat Raphael nichts erzählt?«, wiederholte Sophie.
»Nein.«
»Nun ja, er schlief auch, als … Waren es Einbrecher?«
»Wir wissen es wirklich nicht, Kind«, sagte Friedrich fest.
»Wir werden Sie jetzt hinauf in Ihr Zimmer tragen, Sophie«, mischte sich der Arzt ins Gespräch. »Sie brauchen dringend Ruhe.«
»Aber …«, protestierte Sophie.
»Keine Widerrede. Morgen ist noch genug Zeit, um über alles zu reden.«
Sophie lächelte schwach. »Also gut.«
»Wenn ich darf, schicke ich Raphael vorher noch mal zu dir«, mischte Sebastian sich ein. »Wir haben ihm versprochen, ihm gleich Bescheid zu sagen, wenn du aufwachst.«
»Natürlich«, erwiderte Sophie lächelnd.
Erst als die Männer mit Sophie das Zimmer verlassen hatten, um sie nach oben zu tragen, kam Johanna dazu, den Zettel zu lesen, mit dem der Stein umwickelt gewesen war.
Sie setzte sich aufs Sofa und strich ihn glatt.
Er war in Blockschrift beschrieben, und der Schreiber hatte sich offensichtlich große Mühe gegeben, seine Handschrift zu verstellen.
Sophie, wir wissen, daß Sie sich vor dem Krieg mit einem dieser Franzosen eingelassen haben und daß Raphael ein französischer Bastard ist.
Wir wollen Sie warnen, Sophie. Wir betrachten das als Landesverrat. Sollten wir Sie erwischen, daß Sie wieder mit einem dieser Männer anbandeln, wird es Ihnen und Ihrem Sohn schlecht ergehen.
Johanna holte tief Luft, um das kalte Grauen zu vertreiben, das sich ihrer beim Lesen bemächtigt hatte. Ein anonymer Brief, wie feige! Sophie durfte nichts davon erfahren und Raphael auch nicht. Nicht jetzt. Sebastian kam ins Zimmer und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du hast ihn also gelesen.«
»Ja«, sagte Johanna, ohne aufzusehen. »Wie scheußlich. Was sollen wir nur tun?«
Sebastian setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Eine selten vertraute Geste, denn sie waren sich fremd geworden in den letzten Jahren. »Ach, Johanna«, sagte er verzweifelt. »Ich weiß es nicht.«
Johanna genoss es, endlich einmal wieder in Sebastians Armen zu liegen. Es war so lange her! Gleichzeitig spürte sie eine seltsame Befangenheit ihrem Mann gegenüber. Als sei er ein Fremder. »Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?«, fragte sie und löste sich leicht von ihm.
»Auf gar keinen Fall. Das würde die beiden nur noch mehr in Gefahr bringen. Niemand weiter darf erfahren, dass Raphael Halbfranzose ist.«
»Was sollen wir Sophie denn sagen? Sie hat doch mitbekommen, dass das ein Überfall war.«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wir könnten ihr die halbe Wahrheit sagen. Dass ein Stein durchs Fenster flog und sie am Kopf traf. Von dem Brief braucht sie vorerst nichts zu wissen.«
»Ja, das wäre eine Möglichkeit«, erwiderte Sebastian nachdenklich. »Aber sie ist nicht dumm, und wenn sie wieder ganz gesund ist, wird sie anfangen, sich zu wundern. Außerdem …«
»Ja?«
»Nun, ich mache mir Sorgen, dass das hier vielleicht nur der Anfang war. Der Franzosenhass wächst immer mehr, und wenn irgendjemand weiß, dass Raphaels Vater Franzose ist, dann werden es bald noch mehr wissen.«
»Du meinst, dass Sophie und Raphael ernsthaft in Gefahr sind?«, fragte Johanna erschrocken.
»Ich fürchte, schon.«
»Mein Gott, Sebastian, was können wir tun?«
»Ich hielte es für das Beste, wenn sie für eine Weile untertauchen.«
»Sie sollen von hier fortgehen?« Johanna sah ihrem Mann erschrocken in die Augen. Der Gedanke, Sophie, ihre inzwischen einzige Vertraute, nicht mehr täglich um sich zu haben, bereitete ihr regelrecht körperliche Schmerzen.
»Das wäre am sichersten.«
»Aber … wohin?«
»Ich weiß es nicht, Johanna.« Sebastian strich ihr nachdenklich über das dunkle Haar. Wieder eine seltsam vertraute Geste aus der Vergangenheit. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat sie selbst eine Idee. Du musst mit ihr reden, sobald sie sich erholt hat.«
»Ja«, versprach Johanna leise. »Ja, das werde ich tun.«
13. Kapitel
München, Bayern, 23. Januar 1923
Das Altstadthaus, in dem Lisbeths Eltern lebten, lag in einer Seitenstraße hinter dem Stachus. Marlene war immer noch eingeschüchtert, aber auch beeindruckt, als sie darauf zusteuerten. Hochherrschaftlich erhob es sich über der Straße, es gab einen kleinen Vorgarten, der durch ein eisernes Gitter vom Bürgersteig abgetrennt war. Natürlich blühten zu dieser kalten Jahreszeit keine Blumen darin, aber dennoch wirkte er malerisch und romantisch. Durch diesen Vorgarten führte Lisbeth die Freundin, öffnete die geschnitzte Eingangstür und ging Marlene voran in den ersten Stock, die Beletage. Der Bursche folgte schnaufend mit dem Gepäck.
Ein Dienstmädchen öffnete. Lisbeth zeigte Marlene gleich ihr Zimmer, und wieder staunte Marlene: Es war ganz in Hellblau gehalten. Auf dem Bett lag ein hellblau geblümter Überwurf, hellblaue Samtvorhänge umrahmten das Fenster, ein Sessel, der mit dem gleichen Stoff bezogen war, stand in der Ecke. Das ganze Zimmer strahlte Frische, Wohlstand und Behaglichkeit aus. Marlene war selbst ein Kind aus begütertem Hause gewesen, aber der Reichtum war lang schon verblichen. Das Haus ihrer Eltern am Konstanzer Ufer war inzwischen fast heruntergekommen, es wirkte immer ein wenig trist und grau. Da fühlte sich Marlene im Überlinger Haus ihrer Schwester Johanna wesentlich wohler, auch wenn das lang nicht so prachtvoll war wie das Konstanzer Domizil der Familie. Ihr fiel auf, dass sie gar nicht wusste, was Lisbeths Vater beruflich machte – und es hatte sie auch nie interessiert. Angesichts all dieser Pracht in diesen schwierigen Zeiten fragte sie sich aber dennoch – wenn auch nur flüchtig –, wie Lisbeths Vater seiner Familie diesen Luxus ermöglichen konnte.
»Zieh dich schnell um und lass uns mit Mama etwas essen«, unterbrach Lisbeth Marlenes Gedanken und klatschte in die Hände. »Umso schneller können wir los.«
»Los?« Marlene wandte sich erstaunt zu ihrer Freundin um.
»Ach, das hab ich dir ja noch gar nicht