kommt dir nur komisch vor, dass all die anderen nicht da sind«, erklärte sie. »In einem Haus, in dem sonst immer so viele Menschen sind, ist es einem nun mal unheimlich, wenn man allein ist. Vor allem nachts.«
Raphael nickte und kuschelte sich tiefer in Sophies Arme. »Jetzt habe ich schon gar keine Angst mehr, Mutter«, sagte er glücklich. »Jetzt, wo ich bei dir bin.«
Wenig später war er eingeschlafen.
Aber Sophie konnte nicht schlafen. Die Angst hatte sie nach wie vor fest im Griff und sie lauschte mit angehaltenem Atem in die Stille.
Als der Stein durch die Fensterscheibe schlug, zuckte sie erschreckt zusammen. Raphael wachte auf und fing an zu schreien. »Was ist das, Mutter?«
Aber Sophie antwortete nicht mehr. Der Stein hatte sie direkt an der Schläfe getroffen.
11. Kapitel
München, Bayern, 23. Januar 1923
Marlene fühlte sich herrlich erwachsen. Es war das erste Mal, dass sie alleine, ohne die Eltern, verreiste. Aufgeregt spähte sie aus dem Zugfenster, draußen flog die Landschaft vorbei, wenig später fuhr der Zug in den Münchner Hauptbahnhof ein, wo Lisbeth, ihre vier Jahre ältere Freundin aus Kindertagen, sie schon erwartete. Lisbeth war vergangenes Jahr mit ihren Eltern nach München gezogen und wollte nun heiraten. Marlene reiste an, um bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, am Brautkleid mitzuarbeiten, und sie war furchtbar aufgeregt.
Am Münchner Bahnsteig flog sie in Lisbeths Arme.
»Wie schön, dass du da bist, Lenchen«, sagte Lisbeth zärtlich. »Ich habe dich so vermisst. Lass dich anschauen.« Sie löste sich aus der Umarmung und schob Marlene ein Stückchen von sich weg. Musterte das seidige blonde Haar der Freundin, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel, die rosigen Wangen. »Wie hübsch und erwachsen du geworden bist«, sagte sie.
»Du aber auch.« Marlene strahlte. Wegen des Kompliments, vor Freude, die Freundin wiederzusehen, und vor lauter Aufregung. »Wie schick du bist. Eine richtige Städterin. Und nun wirst du also heiraten. Ich kann es kaum glauben.«
»Ich auch nicht!«, lachte Lisbeth und hakte sie unter. »Aber nun komm. Wir haben es nicht weit bis nach Hause. Ist das alles, was du an Gepäck dabei hast?« Sie deutete auf den kleinen Koffer, der neben Marlene auf dem Bahnsteig stand.
Die nickte verlegen. »Du weißt, wie das heutzutage ist, man hat ja nichts mehr. Und jetzt, wo die Franzosen das Ruhrgebiet besetzen …«
»Ja«, sagte Lisbeth zustimmend, »es sind harte Zeiten.« Sie kicherte: »Mein Hochzeitskleid nähen wir aus alten Gardinen.«
»Aber trägst du denn nicht das Hochzeitskleid deiner Mutter?«
Lisbeth schüttelte den Kopf. »Es ist irgendwie im Krieg verloren gegangen. Ich hätte es gern getragen.«
Sie nickte dem jungen Mann zu, der ein paar Meter abseits stand und der, obwohl er diskret zur Seite blickte, doch sehr genau wahrnahm, was die beiden jungen Damen taten und ob man ihn benötigte. Mit zwei Schritten war er bei ihnen.
»Wir können los, Franzl«, sagte Lisbeth hoheitsvoll und zog Marlene mit sich fort.
Der Bursche folgte mit den Koffern in einigen Metern Abstand.
Marlene war beeindruckt. »Ihr habt noch einen Burschen?«, staunte sie. »Wir mussten unseren schon lang entlassen. Wir haben nur noch zwei Dienstmädchen in Konstanz.«
Lisbeth zuckte die Achseln. »Vater meint immer, der Junge würde auf der Straße landen, wenn er nicht bei uns bliebe. Er ist uns so dankbar.«
Aber Marlene hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Die Großstadt mit ihrem Charme hatte sie vollständig in ihren Bann gezogen. Staunend betrachtete sie die hohen Häuserfassaden, die breiten Straßen und die Automobile, die lärmend vorbeirasten. München kam Marlene vor wie ein riesiger Schlund – was einerseits furchtbar aufregend, andererseits aber auch ziemlich erschreckend war. Mit einem Mal fand sie es gar nicht mehr so erstrebenswert, erwachsen zu werden und alleine durch die Welt zu reisen. Marlene sehnte sich nach nichts mehr als nach der Sicherheit des heimischen Haushalts.
Lisbeth, die trotz ihrer Tendenz zur Oberflächlichkeit bemerkte, wie unwohl sich die Freundin fühlte, umfasste ihren Arm fester. »Es ist etwas beängstigend am Anfang, nicht?«, fragte sie. »Was glaubst du, wie es mir ging? Du weißt ja immerhin, dass du bald zurückkehren kannst. Als ich hier ankam, wusste ich, dass ich bleiben muss.«
»Ja«, sagte Marlene schuldbewusst. »Das ist natürlich ein viel härterer Einstieg.«
»Aber soll ich dir mal was sagen?«, lachte Lisbeth. »Man gewöhnt sich daran. Ich habe die Stadt richtig liebgewonnen. Und das nicht nur, weil ich den Mann meines Lebens hier gefunden habe.«
Ein Automobil fuhr dicht neben Marlene durch eine Pfütze und spritzte ihren Rocksaum nass. Sie schrie erschrocken auf und sprang zur Seite – aber es war zu spät. Der Rocksaum war voll braunem Wasser.
»Oh nein«, jammerte Marlene.
»Nicht schlimm«, versicherte Lisbeth. »Das kriegen wir wieder raus. Und ich verspreche dir: Auch du wirst München lieben.«
Marlene konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Freundin recht behalten sollte. Aber in diesen ersten Minuten nach ihrer Ankunft konnte sie auch noch nicht ahnen, wem sie in München begegnen würde, in welch dunkle Welten sie Einblick bekäme – und dass sie die unglaublichen Ereignisse vom 8. und 9. November hautnah miterleben sollte. An diesem Januartag wusste Marlene Gerstett aus Konstanz ja nicht einmal, dass es einen Mann gab, der Adolf Hitler hieß.
12. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 23. Januar 1923
Raphael riss verzweifelt die Haustür auf und sah sich gehetzt in der Dunkelheit um. Er konnte nichts erkennen. »Hilfe!«, brüllte er aus Leibeskräften. »Hilfe, meine Mutter ist getötet worden!«
Nichts regte sich in der finsteren Nacht, und die Gestalten, die sich hinter Büschen verbargen, gaben sich Mühe, nicht gehört zu werden. Sie hielten erschrocken den Atem an. Was schrie der Junge da? Sophie tot? Das hatten sie nicht gewollt, sie hatten sie doch nur warnen wollen!
Raphael raste durch den Garten und die Straße hinunter. Sein Ziel war das Haus von Doktor Schilling. Wenn jemand seine Mutter noch retten konnte, dann er.
Der Junge war jetzt erstaunlich klar im Kopf und wusste, was er zu tun hatte. Getrieben wurde er von der Angst, dass es zu lange gedauert haben könnte, bis er sich von seinem Schreck erholt hatte, und dass er nun schuld wäre, wenn seine Mutter es nicht schaffte.
Nachdem der Stein sie getroffen hatte, hatte er zunächst geschrien wie am Spieß und sich dann verzweifelt weinend über sie geworfen. »Mutter!«, hatte er immer wieder gerufen. »Mutter!«
Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er auf die Idee gekommen war, Hilfe zu holen. Denn er hatte Angst gehabt, sie alleine zu lassen. Andererseits erleichterte ihn der Gedanke, die drohende Stille des Hauses zu verlassen. Die lastende Verantwortung einem anderen zu übergeben.
Als Raphael verschwunden war, kamen die zusammengekauerten Gestalten vor dem Haus zusammen und tuschelten aufgeregt. »Dass der Stein sie getroffen hat«, jammerte Elsa Kleinschmitt, »war ja nun wirklich nicht abzusehen. Was muss sie denn genau da stehen, wo er hinfliegt!«
»Ob der Junge recht hat, und seine Mutter wirklich tot ist?«, fragte Dorothea Haberstett ängstlich.
»Unsinn, wahrscheinlich ist sie nur ohnmächtig«, mischte sich Trudchen, die Frau des Bäckers, ein.
»Aber was sollen wir denn nun tun?«, fragte Dorothea verzweifelt. »Wenn sie wirklich stirbt, dann haben Sie sie umgebracht.« Sie blickte Elsa Kleinschmitt vorwurfsvoll an.
»Ich?«, fragte die empört. »Nun erlauben Sie mal, wir waren alle daran beteiligt.«
»Aber Sie haben den Stein geschmissen«, beharrte Dorothea.