Haar leicht zerzaust. Man sah Lisbeth die Aufregung deutlich an.
»Oh.« Marlene war etwas enttäuscht. Zwar brannte sie darauf, dem Verlobten ihrer Freundin vorgestellt zu werden, aber sie war stets etwas eifersüchtig, dass Lisbeth, die einst ihre beste, ihre einzige Freundin gewesen war, nun ein neues Leben hatte, zu dem sie, Marlene, nicht gehörte. Mit Freunden, die sie nicht kannte. Außerdem fühlte sie sich unwohl inmitten dieser Münchner, die alle so schick wirkten im Vergleich zu ihr. So schick und so stabil und so fesch. Fieberhaft ging Marlene im Geiste die Garderobe durch, die sie dabeihatte – um festzustellen, was sie eigentlich schon wusste: dass nichts Passendes dabei war. Egal, es würde schon irgendwie gehen.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Auf keinen Fall sollte Lisbeth merken, was in ihr vorging. Und niemals würde sie sich erniedrigen und die Freundin um etwas Schickes zum Anziehen bitten. »Das ist ja wunderbar«, sagte sie deshalb nur. »Ich freue mich darauf.«
Sie wusste noch nicht, dass der Abend ihr Leben vollständig verändern würde.
14. Kapitel
90 Jahre später
Überlingen, Bodensee, August 2013
Nachdem Franziska ihre Augen für immer geschlossen hatte, war es minutenlang still im Zimmer. »Jetzt kam sie gar nicht mehr dazu, dir zu sagen, warum sie dich sehen wollte«, sagte Mia schließlich zu Zita. Es war das Einzige, was ihr einfiel, ansonsten herrschte in ihrem Kopf gähnende Leere, sie war noch nicht in der Lage, auch nur annähernd zu begreifen, was die Großtante ihnen da soeben eröffnet hatte.
Bevor Zita antworten konnte, ertönte ein markerschütternder Schrei. Erschrocken fuhren Mia und Zita zusammen. Melissa hatte den Schrei ausgestoßen, und nun starrte sie hasserfüllt auf die Tote. »Das hat sie mit Absicht getan!«, schrie sie, während ihr Tränen der Wut über die Wangen liefen. »Mit voller Absicht, aus purer Bosheit. Das ist so typisch!«
Mia hatte ihre sonst immer eher zurückhaltende und stille Mutter noch nie so aufgebracht erlebt.
»Mutter!« Mia versuchte, sie zu umarmen, aber Melissa riss sich los. Hilflos und mit hängenden Armen stand Mia vor ihr, als sie sagte: »Mutter, kein Mensch kann aus purer Bosheit sterben.«
»Sie schon«, beharrte Melissa.
»Mutter«, wiederholte Mia.
»Mutter«, äffte Melissa sie nach, warf die Hände in die Luft und brüllte: »Mutter, Mutter, Mutter!« Jedes »Mutter« kam ein bisschen lauter, ein bisschen zorniger.
Für Mia war es, als wolle die Mutter sie verhöhnen, und sie wandte sich mit Tränen in den Augen verletzt ab. Zita sah es und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Sie meint es nicht so«, sagte sie leise. »Ihre Welt ist völlig aus den Fugen geraten. Stell dir vor, du würdest plötzlich erfahren, dass deine Mutter eigentlich gar nicht deine Mutter ist.«
»Mutter, Mutter, Mutter«, tobte Melissa weiter. »Ich habe keine. Versteht ihr? Die Frau, die ich mein Leben lang für meine Mutter gehalten und innig geliebt habe, war gar nicht meine Mutter.« Ihre Stimme klang schrill, sie ließ sich auf dem harten Holzstuhl am Fenster nieder und barg das Gesicht in den Händen.
»Geh zu ihr.« Zita gab Mia einen leisen Schubs. »Sie braucht dich jetzt.«
Zögernd ging Mia auf ihre Mutter zu und legte ihr zaghaft eine Hand auf die Schulter. Melissa blickte auf, mit verquollenen Augen und einem Blick, der ganz leer war vor Unsicherheit und Verlorenheit. Langsam legte sie ihre Hand auf die ihrer Tochter. »Es tut mir leid, dass ich dich so angeschrien habe«, sagte sie leise.
»Schon gut«, erwiderte Mia. »Ich kann ja verstehen, dass dich das alles sehr mitnimmt. Mich ja auch.«
»Vielleicht hat sie ja gelogen«, mischte Zita sich ins Gespräch. »Vielleicht war das das giftige Erbe, das sie euch hinterlassen wollte. Dass ihr rätseln und euch quälen müsst. Ich … kannte sie nicht gut, muss aber leider sagen, dass ich das durchaus für möglich halte.«
»Kein Wunder, immerhin hat sie versucht, dich umzubringen«, murmelte Mia und starrte unverwandt auf ihre tote Großtante.
»Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt«, erklärte Melissa.
»Warum?«, fragte Mia.
»Ich weiß nicht, es ist so ein unbestimmtes Gefühl. Ich habe mich schon immer gewundert, dass ich so viel jünger bin als meine Schwester, und die Antwort von … Mutter …, wenn ich sie danach fragte, war stets irgendwie ausweichend.«
»Du hast neulich gesagt, dass deine Schwester im Dritten Reich verschwunden ist. Und dass deine Tante Franziska irgendwas damit zu tun hat«, begann Zita nachdenklich.
»Ja«, sagte Melissa. »Ja, so hat man mir das erzählt.«
»Das ist merkwürdig«, fuhr Zita fort. »Ich weiß nicht, warum mir das erst jetzt wieder einfällt, aber Philippe hat mir erzählt, dass seine Urgroßmutter Sophie sich die Schuld an deinem und Johannas Schicksal gibt. Er hatte eigentlich vor, mit dir darüber zu sprechen, aber dann haben die Ereignisse sich überschlagen.«
»An meinem Schicksal?«, fragte Melissa erstaunt. »Was für ein Schicksal? Mir ist nie etwas wirklich Schlimmes widerfahren – naja, bis auf … die Tatsache, dass ich eine Mutter hatte, die anscheinend nicht meine Mutter war.«
»Das muss irgendwie zusammenhängen!«, rief Mia aufgeregt. »Und Großtante Franziska hat ja auch gesagt, dass Raphael noch etwas wissen könnte.«
»Das ist Philippes Opa«, ergänzte Zita. »Ich glaube auch, der Schlüssel liegt irgendwo in Frankreich. Wir müssen unbedingt mit Philippe sprechen.«
»Und die Kisten mit den Briefen und den Zetteln aus dem Notizbuch zu Ende durchsehen«, fuhr Mia fort. »Da gibt es noch ganz viel zu entdecken.« Sie machte eine kurze Pause, runzelte die Stirn und fuhr dann fort: »Was ist eigentlich mit diesem Onkel Siegfried? Tante Franziska hat gesagt, dass Sophie und Siegfrieds Frau ihn getötet haben? Warum, Mutter?«
Melissa schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe, offen gestanden, keine Ahnung.«
»Aber sagtest du nicht, du würdest dich an Onkel Siegfried erinnern? Dass er mit Tante Luise auf einem Gut in Ostpreußen lebte und nur ein Bein hatte?«
Melissa runzelte angestrengt die Stirn. »Ich habe keine lebendige Erinnerung an ihn«, sagte sie langsam.
»Wie meinst du das?«, wollte Mia wissen.
»Es ist ganz komisch, ich weiß ganz genau, dass es diesen Onkel Siegfried gab und dass er nur ein Bein hatte. Aber ich … erinnere mich nicht an ihn. Es ist ein bisschen so, als würde ich an die Handlung aus einem Buch denken.«
»Vielleicht hast du ihn ja nie wirklich kennengelernt, sondern immer nur von ihm erzählt bekommen«, vermutete Mia.
»Ja«, sagte Melissa nachdenklich. »Ja, das ist möglich. Es ist manchmal schon merkwürdig mit den Erinnerungen.«
»Ich glaube«, mischte sich Zita ein, »dass wir da noch ganz viel zu klären haben. Aber jetzt sollten wir erst einmal den Arzt über den Tod informieren.«
»Das stimmt«, pflichtete Mia ihr bei. »Es ist ein wenig skurril, dass wir all das am Totenbett der Großtante diskutieren. Aber die ganze Situation ist einfach so verworren. Und so leid es mir tut, ich kann nicht um sie trauern.«
»Nein«, sagte Melissa, »ich auch nicht.«
15. Kapitel
90 Jahre zuvor
Überlingen, Bodensee, 23. Januar 1923
Johanna stieg mit einer Schüssel voll kaltem Wasser und einem Waschlappen die Treppe hinauf. Als sie an Sophies Zimmertür klopfte, hatte sie Angst, denn sie wusste, dass Sophie sie auf den Abend des Überfalls ansprechen würde, und sie hätte ihr dann Rede und Antwort zu stehen.
»Herein?«, rief eine leise Stimme.
Johanna