nicht.« Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst und wartete auf die nächste Frage, die unvermeidlich kommen musste.
Da fragte Raphael auch schon. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum sie mich ›Franzosenschwein‹ genannt haben. Irgendwie ist das seltsam. Erst die Einbrecher und jetzt das.«
Johanna sah ihn erschrocken an. Ahnte der Junge, dass mehr hinter dem Einbruch steckte?
»Ich meine, ich weiß, dass die Jungs blöd waren, als sie auf die Franzosen schimpften. Aber warum haben sie mich beschimpft?«
Johanna schluckte und holte dann tief Luft. »Es gibt da etwas, was du wissen solltest, Raphael«, begann sie vorsichtig.
*
Sophie lag hemmungslos schluchzend in ihrem Bett. Immer wieder murmelte sie zwischen den Schluchzern die Frage, die sie sich in den letzten Tagen so oft gestellt hatte. »Was soll ich nur tun? Oh Gott, was soll ich nur tun?«
»Ich glaube, das weißt du sehr gut selbst, Sophie«, sagte ihr Vater, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß, ernst. »Du hast nicht viele Möglichkeiten.«
»Du meinst, ich soll Überlingen mit Raphael verlassen?«
»Ja«, erwiderte Friedrich schlicht. »Du bist für den Jungen verantwortlich.«
»Es ist ihm ja nichts geschehen«, murmelte Sophie in ihr Kissen.
»Wie bitte?«, fragte Friedrich mit unterdrückter Wut in der Stimme. Er sprang auf und ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Was ist denn nur los mit dir? Das nennst du ›nichts geschehen‹? Wann wäre denn in deinen Augen ›etwas geschehen‹? Wenn er zusammengeschlagen im Krankenhaus läge?«
»Bitte, Vater«, schluchzte Sophie. »Du hast ja recht … Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«
»Sophie«, sagte Friedrich eindringlich. »Du hast nicht nur die Verantwortung für Raphaels körperliches Wohlergehen, sondern auch für sein seelisches. Selbst wenn sie ihn nicht zusammenschlagen, so sind diese Erlebnisse für ihn schrecklich und werden ihn prägen. In diesen Minuten sagt Johanna ihm, dass sein Vater Franzose ist. Glaubst du denn, es ist einfach für ihn, zu erfahren, dass sie ihn aufgrund dessen so behandeln? Es könnte seine ganze Entwicklung beeinträchtigen.«
»Vater«, flehte Sophie. »Hör bitte auf. Ich weiß ja, ich weiß.«
»Was wirst du also tun?«, fragte Friedrich streng.
»Überlingen verlassen.« Sie sagte ihm nicht, dass sie keineswegs nach Konstanz gehen wollte, wie ihr Vater dachte, sondern ins Ruhrgebiet zu Luise.
Friedrich atmete tief durch. »Gut«, sagte er, ruhiger geworden.
»Ach, Vater, was meinst du, wie wird er es aufnehmen?«, fragte Sophie bang.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Schuldirektor auf seine bedächtige Art. »Aber du kannst sicher sein, dass Johanna ihr Möglichstes tun wird, um es ihm so zu sagen, dass er es als das auffasst, was es ist: nicht als Schande, sondern als ganz normale Tatsache. Die Zeit, in der wir leben, ist verrückt, nicht die Sache an sich.«
»Aber es ist so viel geschehen!«
»Es bleibt dir nichts anderes übrig, als abzuwarten.«
Sophie nickte. »Ich weiß, aber das ist gar nicht so einfach.«
21. Kapitel
München, Bayern, 5. Februar 1923
Die Tage vor Lisbeths Hochzeit waren angefüllt mit aufgeregtem Treiben. Und Marlene war mittendrin. Es musste letzte Hand an die Aussteuer gelegt werden – Lisbeths Mutter bestand darauf, jede einzelne Serviette mit den Initialen ihrer Tochter zu versehen. LB. Lisbeth Böttcher. Lisbeth selbst interessierte sich nur für ihr Brautkleid, drehte sich, wenn die Schneiderin kam, wie ein Pfau hin und her und fragte Marlene ein ums andere Mal, ob sie glaube, dass ihr Bräutigam Gefallen an ihr in dem Kleid finden würde, was Marlene jedes Mal mit einem halbherzigen »Aber natürlich, meine Liebe« bestätigte, um dann wieder in ihre Träume zu versinken. Träume von Andreas. Lisbeth in ihrer Aufregung merkte nicht, wie es um die Freundin stand. Sie bemerkte nicht einmal, dass Marlene verzweifelt versuchte herauszufinden, ob er auch zur Hochzeit kommen würde. Mit Fragen, die zu beiläufig gestellt waren, als dass sie wirklich harmlos hätten sein können. Und dann – Lisbeth saß gerade vor ihrem Schminktisch und bürstete ihre goldenen Haare wie jeden Abend mit 100 Strichen, weil ihre Mutter ihr in ihrer Kindheit beigebracht hatte, dass sie dann einen betörenden Glanz entfalteten – sagte sie wie nebenbei den ersehnten Satz: »Ach, übrigens, Andreas wird auch da sein.« Marlene hätte beinahe die Stickerei fallen lassen. Lisbeths Mutter hatte sie ihr aufgedrängt, man werde sonst vor der Hochzeit nicht fertig.
»Ich denke, es ist dir recht, wenn wir ihn neben dich setzen«, überlegte Lisbeth und sah dabei nicht Marlene durch den Spiegel an, sondern sich selbst verzückt in die erwartungsfroh strahlenden Augen. So übersah sie auch, dass Marlenes Blick bei ihren Worten freudig erregt zu leuchten begann. »Er ist zwar schon etwas alt, aber immerhin seid ihr verwandt. Oder, Lenchen, das ist dir doch recht?« Erst jetzt ließ sie die Bürste sinken und wandte sich um, um Marlene anzusehen.
»Ja«, erwiderte die, hastig lächelnd. »Ja, natürlich ist es mir recht.«
Sie sahen sich in der Kirche wieder. Zwar saßen sie nicht nebeneinander, er saß auf der einen Seite der Kirchenbänke und sie auf der anderen, aber immer wieder kreuzten sich ihre Blicke, immer wieder sah Marlene dann als Erste weg, und er, er lächelte wissend. Und zufrieden. Nach der Kirche drängte er sich in der Reihe der Gratulanten neben sie. »Ich höre, du bist meine Tischdame, Marlene«, sagte er und berührte wie zufällig ihre Hand. Ihr Herz raste. »Ich freue mich wirklich sehr«, raunte er. »Wie ich neulich schon sagte: Du bist zu einer richtigen Schönheit herangewachsen.«
Die Worte, die sie hätte antworten mögen, lagen quer in ihrem Hals, sie brachte nur ein Krächzen hervor. So lächelte sie lediglich und nickte und war ungemein dankbar, als Nächste mit dem Gratulieren dran zu sein, sodass er nicht mehr auf eine Antwort warten konnte. Doch während sie ihrer Freundin und deren frischgebackenem Ehegatten gratulierte, war sie mit all ihren Sinnen bei ihm.
22. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Sie suchten Raphael überall. Im Stall, an seinen Lieblingsplätzen im Garten und natürlich auch im Haus. Er war nicht zu finden.
»Warum habe ich ihn nur alleine gelassen?«, jammerte Johanna. »Ich habe doch gemerkt, dass er völlig verstört war. Ich hätte bei ihm bleiben müssen.«
»Er wollte alleine sein«, sagte Sebastian beruhigend. »Und er ist alt genug, dass man diesen Wunsch respektieren muss. Das war schon ganz richtig, Johanna.«
»Aber er ist nicht alt genug, um um diese Zeit draußen herumzulaufen«, sagte Johanna nervös. »Vor allem nicht nach all dem, was geschehen ist. Fällt dir noch ein Ort ein, wo er sein könnte?«
Sebastian dachte angestrengt nach. »Den Schuppen durchsucht Sophie, obwohl sie eigentlich noch im Bett bleiben sollte. Aber ich glaube nicht, dass er dort ist.«
Plötzlich hatte Johanna einen Geistesblitz. »Ich weiß, wo er ist!«, stieß sie hervor und packte Sebastian am Arm.
Sebastian sah sie fragend an. »Wo?«
»Er hat mir neulich eine Stelle am See gezeigt, in Richtung Goldbach. Dort sitzt er gerne.«
»Das wäre eine Möglichkeit!«, rief Sebastian erleichtert. »Lass uns gleich nachsehen.« Er ließ Johanna nicht los, als er durch den dunklen Garten rannte. »Sebastian«, keuchte Johanna, »einer von uns muss bei Susanne und Robert bleiben. Großvater ist doch in der Schule, um mit Raphaels Lehrer zu sprechen.«
»Du hast recht.« Sebastian strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Aber da ich Raphaels Lieblingsstelle nicht kenne und du unmöglich allein durch die Nacht laufen kannst …«
Aber