A. F. Morland

5 Romane Auswahlband Ärzte und Schicksale Februar 2019


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legte den Brief auf den Tisch, nahm sie in die Arme, sprach kaum, ließ sie weinen. Sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte, fragte er: „Was kann ihn nur so sehr aus der Bahn geworfen haben?“

      „Wenn ich das bloß wüsste! Ich habe keine Ahnung!“

      „Ich bin sicher, dass er sich bei dir melden wird, wenn seine Konfusion nachlässt.“

      Nicola löste sich von Sven. „Das glaube ich nicht.“ Sie zeigte auf den Brief. „Er hat Schluss gemacht.“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen. „Vielleicht steht auf diesem Papier nicht die Wahrheit. Vielleicht möchte er bei keiner Frau bleiben, die ihm möglicherweise kein Kind schenken kann. Vielleicht war er zu feige für diese Ehrlichkeit.“

      Dr. Kayser schüttelte den Kopf. „Es muss einen anderen Grund für sein unbegreifliches Verhalten geben. Hat er irgend etwas gesagt, das jetzt, rückblickend, einen Schluss zulässt, an den du noch nicht gedacht hast?“

      Nicola dachte nach. Sie wurde plötzlich blass, legte die Hand auf ihren Mund und stieß undeutlich den Namen „Bruno“ hervor.

      Sven horchte auf. „Wer ist Bruno?“

      Sie sagte es ihm, und sie nahm die Gelegenheit wahr, sich endlich einmal alles von der Seele zu reden.

      Nachdem sie geendet hatte, wusste Sven Kayser sehr genau, was für ein unangenehmer Mensch dieser Bruno Pfaff war – ein widerlicher Zeitgenosse und liederlicher Taugenichts. Seinetwegen hatte Nicola ihren Liebsten belogen.

      „Kann es sein, dass Torben deine Unaufrichtigkeit gespürt hat?“, fragte Dr. Kayser.

      „Vielleicht ist er sogar hinter meine Lüge gekommen“, sagte Nicola schuldbewusst.

      Dr. Kayser überlegte eine Weile, dann meinte er kopfschüttelnd: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das so sehr verbittert hat, dass er nichts mehr von dir wissen will.“

      Nicola sah den Grünwalder Arzt verzweifelt an. „Ich wüsste nicht, aus welchem anderen Grund er mich verlassen haben könnte!“

      „Ich denke, er wird dich schon bald so sehr vermissen, dass er sich mit dir wieder in Verbindung setzen wird, und dann wird sich alles aufklären.“

      „Ach, Sven, das wäre zu schön, um wahr zu sein.“ Nicola machte eine kleine Pause. Dann fragte sie: „Wird Torben wieder in der Seeberg-Klinik arbeiten dürfen?“

      „Er ist ein hervorragender Chirurg“, entgegnete Dr. Kayser. „Es wird nicht einmal nötig sein, dass ich bei Uli ein gutes Wort für ihn einlege. Er wird seinen Job wiederbekommen, und man wird wegen dieser Sache so wenig Aufhebens wie nur irgend möglich machen … Schwamm drüber und vergeben und vergessen.“

      28

      Zwei Tage später …

      Dr. Kayser trat aus dem Fahrstuhl und ging den Flur entlang. Als er Dr. Lorentz’ Wohnungstür fast erreicht hatte, kam die Nachbarin, eine Frau in mittleren Jahren, aus ihrer Wohnung. Sven kannte sie flüchtig und grüßte sie freundlich. „Möchten Sie zu Herrn Dr. Lorentz?“, fragte sie.

      Sven nickte. „Ja.“

      „Der ist mit Sicherheit nicht da“, erzählte Frau Kleinert. „In diesem Haus sind die Wände so dünn, dass man zwangsläufig sehr viele Geräusche durchhört. Und wenn eine Wohnung tagelang verwaist ist, dann hört man das auch. Ich entferne immer das gesamte Werbematerial, damit niemand auf die Idee kommt, bei Herrn Dr. Lorentz einzubrechen.“

      „Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Kleinert“, sagte Dr. Kayser. „Sie wissen nicht zufällig, wo er zu finden ist?“

      Petra Kleinert schüttelte den Kopf. An ihren Ohrläppchen baumelten große goldene Ringe. „Tagelang diese ungewohnte Stille nebenan“, sagte sie. „Ich mache mir, ehrlich gesagt, schon ein wenig Sorgen um meinen netten Nachbarn.“,

      „Ich denke, er wird sich bald wieder einfinden“, meinte Dr. Kayser, und er dachte: Das hoffe ich jedenfalls.

      „Wenn er zu Hause ist, spielt er immer genau die Musik, die mir gefällt – ohne es zu wissen“, sagte Petra Kleinert.

      Sven Kayser wünschte ihr einen angenehmen Abend, machte auf den Absätzen kehrt und fuhr mit dem Lift wieder nach unten. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, Torben Lorentz zu Hause anzutreffen, aber er wollte diese Möglichkeit nicht einfach ausschließen, ohne sich davon auch überzeugt zu haben, denn schließlich war Torben zur Zeit ja nicht hundertprozentig zurechnungsfähig, und bei so einem Menschen waren die tollsten Kapriolen drin.

      Dr. Kayser verließ das Haus, in dem Dr. Lorentz wohnte – und dann begann für ihn das lange Warten.

      29

      Sie wohnten tatsächlich in Schwabing. Bruno Pfaff hatte seine Halb-Schwester in diesem Punkt ausnahmsweise nicht belogen. Es hatte nicht lange gedauert, bis er und Rosy Kupfer wieder zufriedenstellend flüssig gewesen waren. Die diversen unsauberen Geschäfte, die Bruno in die Wege geleitet hatte, hatten allesamt gefruchtet – bis auf eines.

      Dass Dr. Lorentz nicht nur für ihn, sondern, wie er in Erfahrung gebracht hatte, für die ganze Welt unauffindbar war, ärgerte Bruno maßlos.

      „Der Kerl denkt, wenn er auf Tauchstation geht, ist er seine Sorgen los, aber das ist ein Trugschluss“, knurrte Bruno, während sich Rosy neben ihm die langen Fingernägel dunkelrot lackierte. „Er kann nicht ewig verschwunden bleiben. Irgendwann muss er wieder zum Vorschein kommen, und dann kaufe ich ihn mir.“ Er ballte die Hände zu Fäusten und sagte mit grimmiger Miene: „Bruno Pfaff darf man nicht an der Nase herumführen. Wer das doch tut, braucht ’nen Notarzt.“

      „Was machen wir mit den Fotos?“, fragte Rosy und blies mit gespitzten Lippen auf ihre Fingernägel.

      „Die legen wir erst mal auf Eis“, sagte Bruno.

      In zwei ähnlich gelagerten Fällen waren die beiden bereits erfolgreich aktiv gewesen. Die betuchten und von ihnen erpressten Junggesellen, die sich keinen Skandal leisten konnten, hatten anstandslos hunderttausend Mark für die Negative berappt, nachdem Bruno sie mit den kompromittierenden Aufnahmen konfrontiert hatte. Und wenn sie auch Dr. Lorentz’ Geld bekommen hätten, hätten sie für eine Weile Ruhe gegeben. Da der Chirurg jedoch zur Zeit nicht greifbar war, wollte Bruno Pfaff zwischendurch einen Industriellen zur Kasse bitten, dessen Kunden im klerikalen Dunstkreis angesiedelt waren und für den Fotos wie jene, die er von Rosy und ihm zu schießen gedachte, den sicheren geschäftlichen Untergang bedeutet hätten.

      „Wie sieht’s aus mit deinen Krallen?“, fragte Bruno seine Freundin. „Wann bist du endlich fertig?“

      Rosy Kupfer streckte die Hände mit gespreizten Fingern hoch und wedelte damit. „Der Lack muss nur noch trocknen.“

      Bruno griente. „Was ihr Weiber alles tun müsst, um schöner zu sein als ’n Mann.“

      „Dafür sind wir aber dann auch sehr viel schöner als ihr.“

      Bruno grinste. „Das lassen wir dahingestellt.“ Er stand auf und schob die Hände in die Hosentaschen. „Was ist nun?“, fragte er ungeduldig. „Können wir gehen?“

      „Gib mir noch eine Minute, okay?“

      Bruno sah seine Freundin finster an. „Deine Minuten kenne ich. Die ziehen sich, als wären sie aus Gummi. Du weißt, der Typ geht in einer Stunde aus dem Haus.“

      Rosy nickte. „Wie jeden Mittwochabend.“ Sie seufzte, als würde sie sich langweilen. „Und er fährt wie immer zum Bowling.“ Sie verdrehte die Augen. „In einer Stunde. Deshalb verstehe ich deine Nervosität nicht. Wir haben doch noch sechzig Minuten Zeit.“

      „Wir sind noch nicht vor Ort“, gab Bruno Pfaff zu bedenken. „Wir müssen uns noch mit den heutigen Gegebenheiten vertraut machen