Schillers Wallenstein: Was ist der langen Rede kurzer Sinn? Fast drei Jahrzehnte verbrachte ich also an Orten und bei Kulturen auf der ganzen Welt, von denen ich mir Erkenntnisse erhoffte. Ich lebte bei den Jakuten in Sibirien, auf Malaysia, bei den Pueblo-Indianern in Arizona, bei den Sioux in Dakota und in einigen Ländern Afrikas, dem Kontinent der Medizinleute, Zauberer, Hexen und der Besessenheit.«
»Und wovon hast du die ganzen Jahre gelebt?« Mülenberk dachte gerne praktisch.
»Nun, ich brauche nicht viel. Ich bekam immer wieder kleinere Lehraufträge an Universitäten, die sich mit Schamanismus beschäftigen. Während meiner Aufenthalte an den Universitäten schrieb ich zwei Bücher zum Thema, die sich erstaunlich gut verkaufen. So bekomme ich heute zahlreiche Anfragen für Vorträge, die auskömmlich honoriert werden.«
»Dann sind wir ja schon zwei Lebenskünstler«, stellte Mülenberk erstaunt fest.
Kassiopeia lachte. »Wir sind zu dritt, Roman, drei Menschen, die die Kunst zu leben zu ihrem Alltag gemacht haben.«
»Und die besteht bei dir worin?«, wollte Mülenberk wissen.
»Ganz einfach: Die Kunst zu Leben besteht darin, zu lernen im Regen zu tanzen, anstatt auf die Sonne zu warten. Und bei dir, Roman?«
»Was soll ich sagen? Eigentlich ganz ähnlich. Die meisten Menschen meinen, ich sei ein Aussteiger, das war aber nicht meine ursprüngliche Motivation. Ich sehe mich als Einsteiger. – Einsteiger in ein Leben, das mir Freiräume und Möglichkeiten verschafft, die ich vor dem Einstieg nicht hatte.«
»Dann machst du alles richtig, Roman.« Jupp sah ihn freudig an. »Dann weiß ich jetzt auch definitiv, dass es richtig war, dich hierher zu bitten. Es gibt ein Thema, das Kassiopeia und mir auf der Seele liegt.«
»Stopp, Jupp, soweit sind wir noch nicht«, unterbrach ihn Mülenberk. »Mir liegt nämlich auch noch ein Thema auf der Seele. Was verbindet euch beide und wie habt ihr euch kennengelernt? Und wieso bist du hergekommen?«
Kassiopeia nahm Jupp die Antwort ab. »Das gehört ganz sicher in die Langfassung. Lass mich aber noch ein paar Sätze zur Spiritualität sagen: Die meisten Menschen sind der Meinung, dass spirituell arbeitende Menschen verhuscht, verschroben und in dieser Welt nicht zu Hause sind. Das ist natürlich Unfug. Wir sind ganz normale Leute, die ihren ganz normalen Alltag leben. Auch wenn wir uns energetisch verbinden können, nutzen wir soziale Netzwerke und moderne Kommunikationsformen. Menschen mit ähnlichen Werten und Zielen wollen einander finden, ihr Talent und ihr Lebensfeuer zusammenbringen und ihre Träume und Ideen in Projekte gießen. Ein solches Netzwerk ist Value-Space, auf Deutsch Werte-Raum. Es ist ein internetbasiertes soziales Netzwerk, das darauf ausgerichtet ist, Menschen, Ideen und Aktivitäten zusammenzuführen, deren Motivation einer inneren Wertegemeinschaft entstammt. Und da sind Jupp und ich uns begegnet.«
»Und wir haben gleich unsere Seelenverwandtschaft erkannt«, ergänzte Jupp.
»Seelenverwandtschaft?« Mülenberk hielt das für blanken Unfug. Sollte etwas Wahres dran sein, so konnte er es jedenfalls nicht nachvollziehen.
Jupp sah über seinen skeptischen Blick hinweg und fuhr unaufgeregt fort. »Wir beide sehen in einem Seelenpartner einen fehlenden Teil der eigenen Persönlichkeit. Findest du also den einen Menschen, mit dem du dich in der Seelenpartnerschaft vervollständigst, wirst du eine ganz neue Dimension der inneren Zufriedenheit erleben.«
»Und woher weiß ich, dass ich gerade meinem Seelenverwandten begegnet bin?«, spöttelte Mülenberk.
Kassiopeia übernahm. »Oft triffst du deinen Seelenverwandten auf außergewöhnliche Weise. Ob im Supermarkt, auf einer Gartenparty oder beim Hundespaziergang: Plötzlich bringst du einer Person uneingeschränktes Vertrauen entgegen, auch wenn sie dir fremd ist. Du verspürst dann eine überwältigende Anziehungskraft. Seelenverwandte fühlen sich zu Hause, Raum und Zeit scheinen keinerlei Bedeutung mehr zu haben.«
Ein Stich fuhr Mülenberk mitten durchs Herz. Genauso war es gewesen, als er Esther damals in Paris begegnet war.
»Wenn du deinen Seelenpartner triffst, kann dein Verstand das nicht erfassen, doch deine Seele erkennt ihn aus einem tiefen inneren Wissen heraus. Eine Seelenliebe in einer Paarbeziehung oder einer Freundschaft ist als geistige Verbindung bedingungslos. Sie ist an keine Erwartungen geknüpft und braucht keine Machtspiele«, schloss Kassiopeia ihre Erläuterung ab.
Mit leicht brüchiger Stimme fragte Mülenberk: »Und was geschieht, wenn mein Seelenpartner stirbt und nicht mehr verfügbar ist? Kann ich dann überhaupt noch glücklich sein?«
»Dein Seelenpartner ist dann nicht mehr in seinem Körper, aber seine Seele ist hier auf dem Planeten, lebendig und unversehrt und wird es auch für die vorhersehbare Zukunft sein! Wir reden davon, dass der Seelenpartner hier auf Erden gestorben ist, sozusagen seine körperliche Hülle abgeworfen hat, und dann noch mit uns kommuniziert und anwesend ist.«
»Du denkst an Esther, Roman?«, fragte Jupp. »Was ist geschehen?«
Mülenberks Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist auch eine lange Geschichte. Heute möchte ich nur so viel sagen, dass sie sich für ein Leben mit einem anderen Mann entschieden hat und viel zu jung an einem Aneurysma gestorben ist. Wir haben eine gemeinsame Tochter, wie ich dreißig Jahre nach ihrer Geburt erfahren habe. Marie und ich sind sehr glücklich, dass wir uns gefunden haben.«
»Wie könnte es auch anders sein, mein Freund«, sagte Jupp liebevoll.
Mülenberk konnte mit diesen geballten Emotionen und seinem Gefühlsausbruch nicht umgehen. Seit der Lektüre von Henning Mankells Wallander-Krimis hatte er sich den Satz angeeignet, mit dem der schwedische Kommissar Wallander, der an der Welt und sich selbst leidet, Sitzungen zusammenfasst: »Dann wissen wir das.« Wieso schoss ihm gerade jetzt durch den Kopf, was Mankell selbst über seine Figur Wallander geschrieben hatte? Ich bin mir nicht sicher, ob wir Freunde wären, wenn wir uns im richtigen Leben treffen würden. Wir sind ziemlich verschieden und ich mag ihn nicht besonders. Mülenberk schüttelte den Kopf. Dann wechselte er rasch das Thema. »Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn! Warum sind wir hier?«
Jupp lachte. »Der Schüler Roman Mülenberk hat auch vier Jahrzehnte nach dem Besuch des Gymnasiums Goethes Faust noch nicht vergessen. Dann kommen wir zu des Pudels Kern … Du erinnerst dich?«
»Klar. Auf dem Spaziergang begibt sich ein schwarzer Pudel an Fausts Seite, der ihn bis in sein Studierzimmer begleitet. Vor seinen Augen verwandelt sich das Tier in Mephisto und Faust ruft erstaunt aus: Das also war des Pudels Kern. Und was ist es hier und heute?«
»Der Wolf ist zurück und nach allem, was Kassiopeia und ich an Botschaften erhalten, rollt mit ihm eine Welle von Angst und Gewalt auf das Dorf zu.«
»Woher wisst ihr, dass der Wolf zurück ist? Die hochempfindlichen Seismografen der Jägerschaft haben noch nichts verlauten lassen. Eine solche Nachricht würde sofort durch Hunderte Whatsapp-Gruppen gejagt werden.«
»Er hat ein Schaf der Wanderschäferin gerissen.«
»Das kann auch ein Hund gewesen sein.«
Kassiopeia schüttelte energisch den Kopf. »Glaub mir, Roman, wenn Julia Scheffer sagt, es war ein Wolf, dann war es ein Wolf.«
Mülenberk wiegelte ab: »Es wäre schon merkwürdig, dass niemand sonst davon wissen sollte. Ein Wolf in der Gegend wäre ein gigantisches Medienereignis.«
»Genau deshalb schweigt Julia. Ein medialer Hype würde die Leute hier völlig aufwühlen. Mit dem Wolf kommen auch so schon genug Probleme auf sie zu.«
»Ich verstehe nichts von dem, was ihr zu verstehen scheint. Und dieser Wolf soll an dem schuld sein, was eurer Meinung auf das Dorf zukommt?« Mülenberk blieb skeptisch.
»Nein, er ist nicht schuld. Aber er ist ein sicheres Indiz.« Jupp war so leise geworden, dass es sich bedrohlich anfühlte.
Mülenberk spürte, wie die Haare auf seinem Körper sich aufrichteten. Jetzt flüsterte auch er: »Ein sicheres Indiz für was?«
Über