Kapitel
Die Schafe grasten friedlich am Ortsrand von Schalkenbach. Julia Scheffer mochte diesen Ort ganz in der Nähe eines nachgebauten Kohlenmeilers. Sie erinnerte sich daran, was ihr Großvater ihr über die Herstellung von Holzkohle erzählt hatte und welch große wirtschaftliche Bedeutung sie früher für die waldreiche Eifel hatte. Er hatte ihr auch erklärt, dass in der Region zwischen Vinxt- und Ahrtal bereits vor der Römerzeit an mehreren Stellen Eisenerz abgebaut wurde. Das originalgetreue Modell eines römischen Eisenverhüttungsofens neben dem Holzkohlenmeiler erinnerte an diese Zeit.
Großvater … Sie vermisste ihn so sehr. Sofort erschienen die Bilder vor ihrem geistigen Auge, wie der vom Wolf Getötete vor ihr lag. Ihre Hände umklammerten den Wanderstab – seinen Wanderstab – so fest, dass die Knöchel weiß wurden.
Julia wusste, dass die Schafe bei den Hütehunden gut aufgehoben waren, aber gegen den Wolf konnten sie die Herde und sich selber auch nicht schützen. Sie würde sich Herdenschutzhunde zulegen müssen. Ihre Hütehunde waren lediglich dazu ausgebildet, die Herde zu lenken und ihr bei der Arbeit zu helfen, Herdenschutzhunde hingegen wuchsen im Schafstall auf und waren deshalb komplett auf das Zusammenleben mit diesen Tieren sozialisiert. Sie lebten auf der Weide mit den Schafen und verteidigten diese und das entsprechende Gebiet vehement. Sie hatte sich bei den Kollegen erkundigt, die schon länger mit dem Wolf zu tun hatten, und sich für den Maremmen-Abruzzen-Schäferhund entschieden. Ein archaischer kräftiger Hund mit langem weißen Haar, dessen angeborene Verhaltensmuster stark ausgeprägt waren. Nach allem, was Julia in Erfahrung gebracht hatte, war diese Hunderasse sehr gelehrig und würde dennoch keinen unterwürfigen Gehorsam zeigen. Diese Hunde wurden jahrhundertelang daraufhin selektiert selbstständig, also ohne Anweisungen des Menschen zu arbeiten. Sie hatte selber beobachten können, wie die Hunde ihre Aufgabe, das Beschützen ihrer Herde, wahrnahmen. Sie hoffte, dass der Züchter aus Italien sich bald bei ihr melden würde.
Die Schafe alleine zu lassen bereitete ihr gemischte Gefühle, aber Julia wollte diesen Besuch jetzt unbedingt machen. Sie ging auf dem Köhler- und Loheweg, querte den Schalkenbach, marschierte weiter zum Waldgut Schirmau und erreichte schließlich den Aussichtsturm Weiselstein, der den höchsten Punkt in der Wacholderheide anzeigt. Mit schnellen Schritten bestieg sie den hölzernen Turm.
Der Blick war atemberaubend, aber deshalb war sie nicht hierhergekommen. Sie suchte ihn. Wie jedes Jahr im Sommerhalbjahr würde er hier leben. Auch wenn er sich nicht versteckte – schließlich hatte er nichts zu verbergen – wollte er doch nicht leicht gefunden werden. Ein ganz feines Rauchfähnchen, vom milden Westwind rasch weggetragen, zeigte ihr schließlich an, wo sie ihn finden würde.
Mingan hatte sich nicht verändert, seit sie ihn zum ersten Mal mit ihrem Großvater besucht hatte. Er war groß, das Gesicht hager und sie war heute genauso erstaunt wie damals, wie muskulös der Mann war. Das volle schulterlange Haar war mittlerweile weiß und er faszinierte sie wie eh und je. Wenn die Sonne noch nicht ihre volle Kraft entwickelt hatte, zog er über seinen nackten Oberkörper ein Hemd aus weichem Hirschleder, demselben Material, aus dem seine Hose gemacht war. An den Füßen trug er Mokassins, die ihm zusätzlich etwas Jugendliches verliehen.
Mit seinem harten festen Blick betrachtete er sie lange und schweigend. Dann wurden seine Gesichtszüge weich und er sagte freundlich: »Du warst sehr lange nicht mehr hier, Julia.«
»Das stimmt, Mingan. Ich war damals ein kleines Mädchen. Wie hast du mich erkannt?«
»Dein Großvater steht neben dir. Ich habe ihn erkannt. Wir saßen oft zusammen am Feuer und er erzählte mir von seiner großen Liebe zu seiner Enkelin Julia.«
»Ich kann meinen Großvater nicht sehen. Was siehst du, was ich nicht sehen kann?«
»Du kannst ihn nicht mit deinen Augen sehen, Julia, aber wenn du dein Herz weit öffnest, wirst du spüren, dass er da ist. Komm, setze dich zu mir ans Feuer.«
Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander. Julia war überrascht, wie Mingan es verstand, mit so wenig Rauch ein solch wärmendes Feuer am Leben zu halten. Dann hatte sie das Gefühl, als ob ihr Großvater sich neben sie setzen würde. Mingan sah sie an und nickte. Er sah ihn also dort sitzen. Unsichtbar für das menschliche Auge und doch mit ihnen vereint.
»Was ist damals passiert, Mingan?«
Traurig schaute er sie an. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht und kann es mir auch nicht erklären. Seit dem Tod deines Großvaters habe ich mir diese Frage immer und immer wieder gestellt. Er gibt mir keine Antwort und auch sonst bekomme ich kein Zeichen von den Ahnen. Es beunruhigt mich immer mehr. In diesem Jahr ist es besonders intensiv vorhanden, dieses Gefühl der Unruhe.«
»Darf ich dich was fragen?«
»Ja, frag nur.«
»Wieso bist du hier?«
Mingan schwieg lange, während er mit einem Stück Holz vor sich in die Erde malte. Schließlich schaute er sie an. »Wie dankbar bin ich für deine Frage, Julia. Sie ist wie ein Geschenk für mich. Denn manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich vergessen, warum ich hier bin. Mein Stamm gab mir den indianischen Namen Mingan, was so viel wie Grauer Wolf bedeutet. Unser Stamm lebte immer in Frieden mit den Wölfen, bis eines Nachts ein Wolf in das Zelt des Häuptlings, der unterwegs war, um seinen Stamm zu schützen, eindrang und seine beiden kleinen Kinder tötete.«
»Vielleicht war er hungrig?«, vermutete Julia.
»Nein, das war er nicht. Er hat die Kinder mit gezielten Kehlbissen getötet, dann verschwand er im Dunkel der Nacht. Noch heute höre ich manchmal im Traum das Schreien der Kinder.«
»Wie ging es dann weiter? Mit dir und dem Stamm?«
»Es herrschte große Ratlosigkeit und Trauer, nicht nur um den Tod der Kinder, sondern auch um den Verlust des Vertrauens zu den Wölfen. Die Ältesten, Medizinmänner und Häuptlinge von sechs befreundeten Stämmen, trafen sich zur Beratung auf dem heiligen Berg, einem verborgenen Ort, der nur in höchster Gefahr aufgesucht werden darf. Nach sieben Tagen der Beratungen und des Fastens stiegen sie herab und überbrachten ihren Stämmen die Nachricht, dass das Gleichgewicht zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Wölfe aus den Fugen geraten sei.«
»Das ist hier nicht anders, Mingan, der Wolf kommt zurück in eine Welt, die es für ihn noch nie gab. Und in der ich auch keinen Platz für ihn sehe.«
»In meinem Land war und ist es anders. Es ist ausreichend Lebensraum für alle dort. Deshalb habe ich es auch nicht verstanden, dass mein Stamm weiterzog.«
»Wohin seid ihr gezogen?«
»Mein Stamm zog immer weiter nach Süden. Ich blieb.«
»Du bliebst alleine zurück?«
»Ja, Julia, fortzugehen, fühlte sich nicht richtig an.«
»Aber jetzt bist du hier?«
»Letztendlich führte mich ein langer verschlungener Pfad hierher. In jenen Tagen bereiste eine Forschergruppe aus Deutschland unser Land und wir fanden uns. Sie waren auf der Suche nach dem uralten tradierten Wissen unserer Medizinmänner, um Heilungswege für bisher noch unbesiegte Krankheiten zu erkunden. Ich schloss mich ihnen an. Als sie ihre Arbeit beendet hatten, folgte ich ihnen nach Deutschland. Schnell lernte ich eure Sprache, besuchte eure Schulen und studierte in Bonn Medizin.«
»Du bist Arzt?«, fragte Julia erstaunt.
»Unmittelbar vor dem Staatsexamen führte die Fügung mich zu einem weisen Mann. Diese schicksalhafte Begegnung veränderte mein Leben radikal. Kurze Zeit nachdem der Angriff des Wolfes unsere Stämme im Innersten erschüttert hatte und ich alleine lebte, verlor ich sämtliche Haare. Was im westlichen Kulturkreis als kosmetisches Problem und dem diffusen Krankheitsbild Alopecia universalis betrachtet wird, spielt in unserem indianischen Kulturkreis eine ganz andere Rolle: Danach erfüllt jeder Teil des Körpers hochsensible Arbeit für das Überleben und Wohlergehen des Körpers als Ganzes. Der Körper hat einen Grund für jeden seiner Teile. Haare sind gewissermaßen eine Erweiterung des Nervensystems.«
»Hört