Rolf Eversheim

Blutdorf


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Helenas Aussprache war polnisch geprägt und guttural-erotisch. Fritz fand dies besonders attraktiv, wenn Helena sauer war – so wie jetzt. »Ich werde dir sagen, was iss, verdammt noch mal. Die Geschäfte laufen aus dem Ruder und du fragst nur: Was iss

      Schweigend hörte er Helena zu, ohne sie zu unterbrechen. Der Versuch wäre auch sinnlos gewesen, wie er wusste. Mit einem »Ich kümmere mich drum« beendete er das Gespräch.

      Er öffnete ein weiteres Stubbi und holte aus dem Kühlschrank einen Eifel-Gin. Den hatte er auf seiner letzten Rückfahrt von Belgien in der Monschauer Senfmühle gekauft. Nach alter Hausrezeptur werden Wacholderbeeren unter Zusatz von handgesammelten Eifeler Kräutern mit unserem feinen Weizendestillat mazeriert, stand auf der Flasche. Er musste zugeben, dieses Zeug schmeckte tatsächlich. Und gesund musste es auch sein. Er hatte irgendwo gelesen, dass die britische Armee sich während der Besatzungszeit in Indien mit dem täglichen Genuss von Gin-Tonic vor Malaria geschützt hatte. Dass die im Tonic-Wasser enthaltene Chinarinde ein altbekanntes Heilmittel gegen Malaria ist, war ihm nie zur Kenntnis gekommen, das war auch weniger sexy als gesunder Alkohol.

      Er drückte auf die Wahltaste eines Prepaid-Handys. Das war eine der Vorsichtsmaßnahmen, um ihre gegenseitigen Telefonate zu schützen. In jedem zweiten Fernsehkrimi wurden die Täter ja mittlerweile mit Telefonlisten der Provider überführt und eine Handysperre schien auch keiner der Schwerverbrecher eingerichtet zu haben, dabei machte das heute jedes Schulkind. Er fand die Krimi-Drehbücher in der Regel sehr wirklichkeitsfern. Den abgestumpften Leuten, die tagein, tagaus vor der Glotze hockten, um kein eigenes Leben führen zu müssen, schien das allerdings egal zu sein oder sie wussten es einfach nicht besser.

      Marcel Leclerc ging sofort ran. Fritz wusste, dass er zuvor den Klingelton Im Wald da sind die Räuber zu hören bekommen hatte. Schwachkopf hatte Fritz ihn für diese Wahl genannt. »Hi, Fritz, möchtest du wissen, wie mein rechtschaffener Antiquitätenladen hier im liebreizenden Lüttich läuft? Bestens, sage ich dir, bestens, mein Lieber.« Leclerc gab sich ausgesprochen gut gelaunt.

      »Nein, Marcel, ich möchte wissen, wieso auf der anderen Seite der Grenze hinter vorgehaltener Hand erzählt wird, dass bei dir in Lüttich nicht alles mit rechten Dingen zugeht.«

      Leclercs gute Laune war schlagartig verschwunden. »Wer sagt das?«

      »Es spielt keine Rolle, wer das sagt, sondern dass es gesagt wird. Raus mit der Sprache. Was ist los bei dir? Wie kommen diese Gerüchte in Umlauf?«

      Wie immer, wenn Leclerc aufgeregt war, färbte sein wallonischer Akzent die Sätze noch deutlicher, als er es ohnehin schon tat: »Was soll schon sein, Fritz? Ich habe hier ein kleineres Problem zu lösen. Mach dir keine Sorgen.«

      »Und ob ich mir Sorgen mache, Marcel, ganz große sogar. Also raus mit der Sprache!«

      »Das Finanzamt ist seit zwei Tagen zu einer unangemeldeten außerordentlichen Betriebsprüfung hier im Antiquariat. Sage und schreibe drei Staatsdiener drehen jeden Stein um. Es ist zum Wahnsinnigwerden.«

      Fritz Meier wurde schlagartig aschgrau im Gesicht. Mit vielem hatte er gerechnet, aber dass ausgerechnet das Finanzamt drohte, hinter ihre Geschäfte zu kommen, war noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Wenn Helenas Kunde schon davon wusste, wer noch alles?

      Helena war ein Genie. Zuverlässig und diskret versorgte sie Fritz mit Informationen, an die sonst niemand herankam. Vollgepumpt mit Testosteron vergaßen ihre Kunden oft jede Vorsicht, wenn Helena sie umsorgte und ihnen Anerkennung und Bewunderung schenkte. Die meisten Männer bekamen zu Hause weder das eine noch das andere und Helena nutzte diese Marktlücke, wie sie es nannte, geschickt aus.

      Die meisten anderen Probleme hätte Fritz Meier mehr oder weniger schonungslos aus der Welt schaffen können. Aber das Finanzamt nicht. Er brauchte mehr Informationen. »Können sie eine Verbindung zwischen uns finden? Denk genau nach, Marcel!«

      »Was meinst du, was ich seit zwei Tagen tue? Ich sehe derzeit nichts, aber der Teufel ist ein Eichhörnchen.«

      »Ich will umgehend über alles von dir informiert werden. Hast du mich verstanden?«

      »Hör mal, ich bin nicht dein Dienstmädchen. So kannst du nicht mit mir reden«, ereiferte sich Leclerc.

      »Und ob ich das kann. Meinst du, wegen deiner Dämlichkeit will ich im Knast landen? Oder wir alle womöglich? Weißt du nicht, wie sie Al Capone erwischt haben?«

      »Kenne ich nicht. Ist das auch ein Belgier?«

      Fritz verdrehte die Augen. Was für ein Schwachkopf. »Halte mich auf dem Laufenden, verstanden?«

      »Ist ja schon gut«, gab Leclerc kleinlaut bei, »ist ja schon gut.« Dann beendete er grußlos das Gespräch.

      Fritz hatte sich noch einen Gin nachgeschüttet, goss ihn aber genervt in den Abfluss und aktivierte stattdessen die Espressomaschine, die dampfend und fauchend loslegt. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Der Belgier konnte sich ganz schnell zu einer Riesenbedrohung entwickeln. Ausgerechnet jetzt, wo alles so gut zu laufen schien. Wie oft hatte er versucht, ihm einzutrichtern, dass er auf dem Teppich bleiben sollte. Stattdessen fuhr er mit einer italienischen Luxuskarosse durch die Gegend, die jeden Zuhälter neidisch machte. So ein Vollpfosten! Kein Wunder, dass das Finanzamt sich das genauer anschauen wollte. Fritz schnaubte.

      Den zweiten Espresso trank er mit noch mehr Zucker. Es war Ironie des Schicksals, dass ihm Marcel den Espresso aus Belgien mitgebracht hatte. Seit seine Mutter gestorben war, hatte der Belgier niemanden mehr, den er umsorgen konnte, daher versorgte er Helena und Fritz mit wallonischen Spezialitäten. Anfangs war es ihm auf die Nerven gegangen, aber zwischenzeitlich hatte er sich mit den Genüssen aus dem Nachbarland angefreundet, denn die Wallonie schien ein Universum perfekter Genüsse zu sein: traditionell hergestellte Schokoladen und Pralinen, Ardenner Schinken, geräuchert mit Buchenholz aus den Ardennen und mit Wacholderbeeren … Was hatte Marcel ihnen nicht alles für Spezialitäten nahegebracht, zum Beispiel den Lütticher Sirup aus Apfel- und Birnenkraut aus der Region von Aubel der, wie Marcel sich schwärmerisch ausdrückte, eine köstliche Affäre mit Käse eingeht. Er schwor dabei auf den intensiv duftenden Herver-Käse, der ebenfalls aus der Region um Lüttich kam. Und dann diese legendären Reisfladen aus Verviers. »Niemals zum Sattessen, aber immer zum Vergnügen«, kommentierte Marcel stets mit halb vollem Mund. Nur in einem Punkt konnte und vor allem wollte Fritz Marcel nicht beipflichten: Das belgische Bier war nicht besser als sein Bitburger – obwohl Fritz im Stillen zugeben musste, dass es in der Wallonie schon charaktervolle Biere gab, denen das Bitburger im wahrsten Sinne des Wortes nicht das Wasser reichen konnte. Die Wallonie war mit ihren Quellwassern privilegiert, die Trappistenbiere Chimay, Rochefort und Orval zeugten davon. Die drei konnten ganze Nächte mit dem Verkosten der Spezial- und Abteibiere in den Varianten hell, doppelt oder dreifach verbringen, die sich je nach Rezept, Gärung und Malzgehalt voneinander unterschieden, Helena stand dabei den Männern in puncto Alkohol in nichts nach. Bei diesen Gelagen planten sie ihre Coups – Kreuzzüge, wie Marcel sie nannte. Und urplötzlich war dieser wunderbare und liebenswerte Marcel ein Problemfall geworden.

      Fritz spürte, wie sich eine Schlinge um sein Herz zog, wenn er daran dachte, was zu tun war, wenn das Problem weiter eskalierte.

       8. Kapitel

      Die frische Abendluft half Mülenberk, sich an den Fakten zu orientieren. Auf seinem Weg zum Auto fasst er die Erkenntnisse aus dem Treffen im Haus von Kassiopeia zusammen: Er hatte nach über dreißig Jahren seinen alten Freund und Bundesbruder Jupp Boergaard wiedergesehen – und nicht nur das: Es schien so, als ob die Jahre ihrer Freundschaft zwar Patina verliehen hatten, sie aber darunter strahlte wie früher. Mit der Einschätzung von Kassiopeia tat er sich viel schwerer, hielt sie gar für unmöglich, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Ihre mystische Aura und dieselben grünen Augen wie Esthers zogen ihn einerseits auf eine ihm bisher nicht bekannte Art und Weise an, aber andererseits verunsicherte, ja erschreckten ihn ihre offensichtlichen Gaben und Befähigungen. Sie fanden noch keinen Platz in seinem Weltbild, das durch die naturwissenschaftliche Ausrichtung seines Studiums geprägt war.

      Deshalb