Beziehungslähmung auch um sich. Wieviel gelähmtes, ungelebtes Leben haben wir zu beklagen, weil wir aus Angst, zu kurz zu kommen, ständig mit Dingen beschäftigt sind, die uns daran hindern, uns auf den Weg zu unserer ureigenen Identität und Einmaligkeit aufzumachen und der zu werden, als der wir von Gott erdacht und erschaffen wurden? Nach dem Motto: „Ich bin eigentlich ganz anders. Ich komm nur so selten dazu…“
Kind, deine Sünden sind dir vergeben. Kind? Da liegt doch ein Erwachsener! Ja, aber einer, bei dem das Leben noch einmal neu beginnen kann, wie bei einem Kind. Wer bei Jesus in die Gegenwart Gottes tritt, dem wird die Last der Vergangenheit abgenommen. Die Last, das Leben alleine tragen zu müssen. Die Last, das Leben aus sich selbst hervorzubringen. Die Last auf sich genommener Schuld. Die Beziehung zu Gott, der Glaube, bringt Leichtigkeit ins Leben, auch dort, wo es eigentlich schwer ist, wo Krankheit und andere Bürden durchaus noch das Leben belasten. Glaube bedeutet: „Auch wenn es schwer ist: Ich bin gehalten. Ich muss mich nicht um alles sorgen. Es ist für mich gesorgt.“
Das ist so, wie wenn nach einer Flaute endlich wieder Wind das Segel füllt. Nach einer Zeit des Stillstandes nimmt das Boot wieder Fahrt auf und man ist stets aufs Neue überrascht, wie durch einen leichten Hauch ein tonnenschweres Boot in Bewegung gerät. - So überrascht, und noch dazu voller Freude wird der Gelähmte auch gewesen sein, als Jesus ihm sagt, dass es jetzt Zeit ist „zu gehen.“ Und zwar wörtlich! Wenn wir das Gelähmte in unserer Mitte durch alle menschliche Ohnmacht zu Jesus, in die Gegenwart Gottes bringen, dann macht er unserem Leben Beine. Dann kommen Dinge in Bewegung, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Aber wir müssen sie Jesus zu Füßen legen. Sonst bleiben wir gelähmt zurück wie die Schriftgelehrten. Sie glauben ihm nicht. Sie halten ihr Herz nicht der heilenden Kraft der Vergebung hin. Die Menge dagegen erkennt die Wirkmacht Gottes in diesem Geschehen und wird erfasst von der Freude und Leichtigkeit, die dem Glauben innewohnt.
Wenn wir das Gelähmte in unserer Mitte durch alle menschliche Ohnmacht zu Jesus, in die Gegenwart Gottes bringen, dann macht er unserem Leben Beine.
4. Glaube erschließt eine neue Sicht der Dinge (Mk 8,22-26)
Mit Blindheit geschlagen zu sein, ist kein Spaß. Eingeschränkte Teilhabe am Leben. Ständig ist es dunkel um einen. Der Gang bleibt unsicher. Wenn ein wesentlicher Wahrnehmungsaspekt von Wirklichkeit fehlt, ist das ein großer Verlust. Diese Einsicht hat Jesus bereits in der Geschichte zuvor seinen Jüngern zu vermitteln versucht. Denn sie traf der Urteilsspruch der Blindheit: Augen habt ihr und seht nicht, Ohren habt ihr und hört nicht. „Eure Sinne versagen gegenüber der Wirklichkeit Gottes! Ihr seid schon so lange mit mir unterwegs, aber nehmt Gott, der jederzeit durch mich wirkt, einfach nicht wahr.“ Wenn ihr glaubtet, wäre das anders. Der Glaube öffnet die Augen für die Wirklichkeit Gottes. Die Natur wird als Schöpfung erkennbar. Das Schicksal als Schickung eines mich liebenden Gottes. Die weglose Wüste des Alltags zu einem gangbaren Weg mit sich mehr und mehr abzeichnenden konkreten Zielen. Der Heilungsprozess hin zum sehenden Herzen – „Denn man sieht nur mit dem Herzen gut“, wie Antoine de Saint-Exupéry mit Recht sagt – braucht dabei erfahrungsgemäß Zeit. Die Schärfung der Optik für die Welt Gottes ist ein lebenslanger Lernweg, wie diese Heilungsgeschichte in ihren unterschiedlichen Stationen verdeutlicht.
Der Glaube öffnet die Augen für die Wirklichkeit Gottes.
1. Am Anfang des neuen Erkennens steht erst einmal das Verlassen des alten Standortes, des bisherigen Lebenszusammenhanges, um neues Sehen, Sehen in einem neuen Geist zu ermöglichen. Am Anfang eines Glaubenslebens stehen biographisch häufig Lebenskrisen, die neben all dem Tragischen aber eben auch das Gute an sich haben, dass sie Leben neu in Bewegung setzen. Nach dem Zerbruch des Alten müssen sich Dinge neu organisieren, neu finden. Im Bild gesprochen, zerbricht der alte Rahmen, der ja einen bestimmten Blick auf das Bild vorgegeben hat. Der ist nun weg, so dass die Möglichkeit zu neuen Perspektiven und einer neuen Sicht eröffnet ist. Wahrnehmung kann dann auch gedanklich mit neuer Freiheit verarbeitet werden, anstatt weiter den alten Begründungsmustern zugeordnet oder gar durch die Denkfiguren überkommener Ideologien vergewaltigt zu werden. So konnte beispielsweise Luther vom Windelnwaschen und den dabei auftretenden Gerüchen als „köstlichstes Gold und Edelsteine“ geradezu schwärmen, weil er darin etwas Gottgewolltes zu tun gewiss war, wogegen seine Zeitgenossen überzeugt waren, dass so etwas einem Mann zu verrichten unwürdig sei.
2. In einem zweiten Schritt wendet sich Jesus diesem Menschen ganz zu, was im Grunde gar kein zweiter Schritt ist, sondern die innere Sicht, die sich einem auftut, wenn man den äußeren Schritt raus aus dem Alten vollzogen hat! Es gehört nämlich zum Eigentümlichen geistlicher Wirklichkeitswahrnehmung, das das, was äußerlich als eine neue „Deutung“ von Wirklichkeit beschrieben wird, im persönlichen Erleben dessen, in dem der Glaube erwacht, als ein Überwältigt werden durch die Zuwendung Gottes erfahren wird. Gott wendet sich mir zu, er sieht mich an, berührt mich in meinem innersten Kern und mir erschließt sich dabei eine neue Wirklichkeit. Ich, der ich mich von Gott angesehen weiß, der ich nun Ansehen bei Gott habe, sehe nun meinerseits die Welt mit neuen Augen. Ich sehe sie wie in neues Licht getaucht, so als wenn nach einem trüben Winter die schon vergessene Sonne endlich wieder scheint.
3. Die Heilung des Blinden geschieht nun in einem Dreischritt, der verschiedene Aspekte der neuen Sicht auf die Wirklichkeit beschreibt. Zunächst ist von einem Aufblicken die Rede. Die Perspektive wendet sich nach oben. Die Dimension des Himmels bricht in das eigene Leben hinein. Es verdeutlichen sich auf einmal bisher nicht erkannte, sinnhafte, vertikale Strukturen, die in unsere Welt des Horizontal-immanenten Denkens hineinreichen und unsere Lebensentscheidungen daran neu ausrichten lassen. Das Aufblicken beinhaltet aber auch die Erfahrung überwundener Scham: Ich lasse mein Minderwertigkeitsgefühl zurück. Ich bin keine Laune der Natur, sondern ein von Gott geliebter Mensch, habe Ansehen bei ihm. Und alles schuldhafte Verhalten muss weichen unter seinem liebenden Blick. Es hat nicht die Macht, mich länger in der Dunkelheit zu halten. Fortan leiten mich seine Augen.
4. Es gehört zu den eigentümlichen Erfahrungen des Glaubens, dass der Weg zum wirklichen Sehen mit Nachbesserungen verbunden ist. Wir müssen uns von Gott immer mal wieder die Optik zurecht rücken lassen, müssen im Grunde lebenslang in seine Sehschule des Glaubens gehen, damit wir durchblicken, wie es dann auch bei dem Augenpatient von Jesus heißt. Überhaupt scheint die Schule des Glaubens dazu beizutragen, dass wir wieder zu Sinnen kommen. Paulus spricht davon, dass der Glaube aus dem Hören kommt und er fügt an, dass dieses Hören durch das Wort Gottes initiiert wird, das zu hören und zu lesen zu einer erheblichen Schärfung der Optik verhilft (vgl. Röm 10,17).
Die Heilung erweist sich dabei als ein umfassenderes Geschehen als die bloße Beseitigung von körperlichen bzw. psychischen Leiden.
5. Am Ende der glücklichen Heilung steht das Einsehen, die Einsicht. Das ist die Fähigkeit, die Wirklichkeit Gottes hinter den vordergründigen Geschehnissen unseres Alltags zu erkennen. Der Heilige Geist, der solche Einsicht ermöglicht, wirkt dabei also als eine Art Freischaltungsschlüssel, um die Handschrift des Schöpfers in allen Dingen wahrzunehmen. Die Heilung erweist sich dabei als ein umfassenderes Geschehen als die bloße Beseitigung von körperlichen bzw. psychischen Leiden. Beziehungen werden heil: Der Sehende erkennt nun seine Mitmenschen und kann mit ihnen in ganz neuer Weise in Kontakt treten und am Leben teilnehmen. Und die Heilung eröffnet darüber hinaus eine Perspektive auf die größere Wirklichkeit Gottes und eröffnet so die Möglichkeit zur Neuaufnahme der Beziehung zum Schöpfer dieses Universums. So leuchtet in dieser Heilung das Heil Gottes auf. Die Strukturen des Reiches Gottes verdeutlichen sich bei ihm, auch wenn er später wieder in seinem ganz normalen Dorf wohnen wird.
5. Glaube folgt einem speziellen Erkenntnisweg (Joh 7,14-16; 8,32-36)
Wie kommt eigentlich ein Mensch zu gesicherter Erkenntnis über Fragen des Glaubens? Wie können wir von Gott sprechen, ohne der Unsicherheit zu erliegen, dass alles vielleicht doch ganz anders ist? Oder ist es sogar so, wie viele heute sagen: „Das mit Gott muss jeder für sich selber wissen. Das ist hochgradig subjektiv. Nichts genaues weiß man nicht. Wir verlassen hier das Feld objektiv-belastbarer Rede. Und vermutlich werden alle Religionen sparsam gucken, wenn einmal der Vorhang fällt. Denn wer Gott,