David Lopez

Aus der Deckung


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Alte hält es nicht mehr aus, er kommt zeternd in die Umkleide, dabei muss ich nur noch meine Schuhe schnüren. Immer muss man auf mich warten. Ich soll das gemeinsame Aufwärmen und das Muskeltraining leiten. Das ist normalerweise mein Job, aber heute, gerade erst zum Training zurückgekehrt, bin ich nicht darauf vorbereitet. Wortlos gehe ich aus der Umkleide in die Trainingshalle. Sie ist rechteckig. Ganz hinten befindet sich der Boxring. Scheinbar weit entfernt. Der Boden ist aus Beton. Wir hätten gern ein rutschfestes Parkett, aber wenn wir darüber reden, reißen wir nur Witze. Auf dem Beton rutschen wir in unseren Schweißpfützen aus. Die Hallenmitte ist frei, als würde sich zwischen den Boxsäcken eine Lichtung auftun. Insgesamt sind es sechs. Ich gehe an meinem Lieblingssack vorbei, dem schwarzen mit den waagrechten grauen Streifen, und verpasse ihm beiläufig eine rechte Gerade, eine schnelle Klatsche. Lass den Sack, sagt Monsieur Pierrot. Tausend Mal habe ich das schon gehört. Aber es juckt mich, und ich versetze ihm trotzdem einen leichten Schlag. Für meinen Ungehorsam fange ich mir einen Klaps mit der flachen Hand auf den Hinterkopf ein. Ich erinnere Monsieur Pierrot daran, dass beim Boxen Schläge auf den Hinterkopf verboten sind. Das bringt ihn zum Lachen. Verrückt, wie liebevoll er rüberkommt, wenn er die Leute wie ein Stück Scheiße behandelt. Er gibt mir noch einen Klaps, aber ich weiche aus, und wir gehen mit einem Lächeln auseinander, als ich lostrabe, um mit dem Aufwärmen zu beginnen. Alle folgen mir.

      Zuerst sind die Arme dran, wir schlagen beim Laufen Geraden, lassen die Schultern kreisen. An den Wänden hängen Spiegel, ich nutze sie für einen Blick hinter mich, um mich zu vergewissern, dass jeder meinen Anweisungen folgt. Der Boxer ist narzisstisch. Er verbringt Stunden vor dem Spiegel, mustert sich auf der Suche nach dem perfekten Bewegungsablauf, der dem Gegner keine Lücke lässt, die es ihm ermöglichen würde, einen Treffer zu setzen. Und je näher er diesem Bewegungsablauf kommt, desto mehr findet er Gefallen daran, an den Bögen, die ein linker Haken, gefolgt von einem Aufwärtshaken, beschreibt, er bewundert den Ausdruck, den diese Bewegung dem Körper gibt, die Schlagkraft, die dadurch freigesetzt wird, die Schönheit dieser fließenden explosiven Gewalt, wenn der endlos wiederholte Bewegungsablauf vollendet ist. Und er betrachtet sich, sieht zu, wie er jene Osmose aus geistiger Ruhe und körperlicher Gewalt erlangt. So gelingt es ihm, den Hass vom Willen zu trennen, dem anderen wehzutun. So wird der Schmerz annehmbar. Und die Niederlage.

      Wir bewegen abwechselnd die rechte und die linke Schulter, dann beide zusammen. Monsieur Pierrot steht in der Mitte des Raums, betrachtet uns mit verschränkten Armen. Hier und da ahmt er uns nach, um uns zu zeigen, wie es richtig geht, dann erinnert er sich, dass er mehrere Operationen hinter sich und keine professionellen Boxer mehr unter seiner Obhut hat, und hört auf damit. Monsieur Pierrot ist im letzten Jahr um zehn Jahre gealtert. Vielleicht ist es seine letzte Saison, aber das sagen wir jedes Jahr. Keine Ahnung, was aus dem Boxclub wird, wenn er sich eines Tages zurückziehen muss. Man kann sich kaum vorstellen, dass er eines Tages aufhören könnte.

      Wir machen Gleitschritte, fast wie Chassés beim Ballett, bei denen es auch darauf ankommt, den gleichen Abstand zwischen den Beinen beizubehalten. Es ist der Schritt des Boxers. Man muss das Gewicht gut verteilen. Das Gleichgewicht ist wichtig für einen Boxer. Sonst stürzt er.

      Fersen an den Po, Knie hoch. Wir traben noch einige Runden, dann beugen wir auf mein Zeichen hin die Knie und springen so hoch, als wollten wir die Decke berühren. Wir wiederholen das ein Dutzend Mal. Eigentlich fordert Monsieur Pierrot uns gern heraus, etwa mit fünfzig Euro für den, der an die Decke kommt, die allerdings sehr hoch ist. Doch seit Virgil es zweimal geschafft hat, lässt er das lieber bleiben. Deshalb versuche ich es erst gar nicht, doch seit Virgil es geschafft hat, ist Monsieur Pierrot noch härter drauf. Ich vermute, Virgil hat die Kröten nie gesehen.

      Vor dem Spiegel an der Wand zur Umkleide bleibe ich stehen und hüpfe auf der Stelle. Ich drehe mich zu den anderen um, sie machen es mir nach. Wir hüpfen so eine gute Minute lang, schütteln die Arme aus, entspannen die Schultern. Und dann beginnt das Schattenboxen. Das bedeutet, gegen die Luft zu boxen, gegen einen imaginären Gegner. In meiner Vorstellung ist er oft nicht besonders groß, denn aufgrund meines Körperbaus sind die Gegner in meiner Gewichtsklasse gewöhnlich kleiner als ich. Wenn der Gegner versucht, in meine Deckung einzudringen, halte ich ihn auf Distanz. Sobald er den geringsten Vorstoß unternimmt, lege ich los. Wenn man seine Reichweite richtig ausnutzt, kann man mit dem Kerl machen, was man will. Ich liebe es, einen Gegner zu zermürben, bis er aus purer Verzweiflung losstürmt. Dann muss er meine Aufwärtshaken einstecken. In dem Moment serviere ich ihm meinen Jab, die mit der Führhand geschlagene Gerade gegen den Kopf. Der Jab ist der wichtigste Schlag, er allein ist Beweis genug, dass Boxen kein Sport von Rowdys ist. Ein Jab ist zu allem nützlich, zur Verteidigung, zur Vorbereitung eines Angriffs, um sich zu schützen, um Raum zu gewinnen, als Finte, um die Deckung zu öffnen, längere Kombinationen aufzubauen, den Rhythmus des Gegners zu stören. Um auszusehen, als boxe man, wenn man mal keine Lust hat. Man kann einen Boxkampf allein mit seinem Jab gewinnen. Ich bin ein Distanzboxer, ich setze auf die lange Distanz und den Konter, deshalb benutze ich den Jab hauptsächlich, um den Gegner zurückzutreiben, ihn daran zu hindern, in seine Kombinationen zu finden. Beim Schattenboxen lege ich mich richtig ins Zeug, es steht mir ja niemand gegenüber. Ich schlage, tänzle, ich dopple, weiche aus, Rückzug, Konter. Ich heize dem Kerl ein. Ich spule alle Schlagfolgen ab. Alles sitzt. Jonas! Links, links, rechts, und kümmere dich nicht um den Rest! Monsieur Pierrot weiß, dass ich mir beim Schattenboxen vorstelle, Typen k.o. zu schlagen, dass ich sie mir einen nach dem anderen und manchmal sogar gleichzeitig vornehme und ihnen den Kopf abreiße. Man sieht es sofort. Seriös ist das nicht. Ein linker Leberhaken, dann mit derselben Faust ein Uppercut hinauf zum Kinn, dann eine rechte Gerade auf den Kiefer und zum Schluss ein linker Haken gegen die Stirn. Der Kerl wird sich sein ganzes Leben an diesen Kampf erinnern. Fehlte nur noch, dass ich die Arme hochreiße, um meinen Sieg zu feiern.

      Links, links, rechts. Wenn man eine Gerade schlägt, müssen die Faust und die beiden Schultern eine Linie bilden. Das erfordert eine Drehung des Oberkörpers, die von den Beinen mit einer Drehung auf den Ballen begleitet wird, bei der die Hüfte mitgeht. Beim Schlagen ist der ganze Körper im Einsatz. Um eine Gerade mit dem anderen Arm anzuschließen, muss man die entgegengesetzte Drehung durchführen, und das zieht an den schrägen Bauchmuskeln, wenn man es richtig macht. Die Gerade muss frontal kommen, die Faust sofort an ihren Ausgangspunkt vor dem Gesicht zurückkehren. Wenn sie zur Schulter hin abfällt, lässt man eine Lücke und fängt sich einen Konter ein. Mein Fehler ist, dass ich die Linke zu tief halte. Auch wenn mein Jab dadurch unberechenbarer ist, bleibt eine Lücke für die Rechte. Man muss ein verdammt gutes Auge haben, um sich das Boxen mit offener Deckung erlauben zu können. Darauf setze ich, denn die Hände ständig oben zu halten ermüdet irgendwann. Aber weil Monsieur Pierrot mir zusieht, strenge ich mich an. Mein imaginärer Gegner ist jetzt ein wenig besser. Er teilt aus. Selbstverständlich nicht genug, um überlegen zu sein. Das ist das Gute am Schattenboxen. Man setzt sich gegen jeden Gegner durch.

      Ich höre auf zu boxen, tänzle aber weiter auf der Stelle. Die anderen folgen mir und öffnen die Deckung. Ich beginne mit dem Muskeltraining. Es besteht aus einem Set von Dehn- und Streckübungen, die auf der Stelle ausgeführt werden. Dabei werden einzelne Muskelgruppen maximal belastet. Für dieses Trainingsprogramm braucht man nicht mehr Platz als für einen Hula-Hoop-Reifen. Ich übernehme gewissenhaft die Übungen von Monsieur Pierrot, der sie noch vormachen konnte, als ich anfing, und auch wenn wir uns darüber amüsierten, dass sein weniges Haar, das er sich als Strähne über die Stirn kämmte, bei den Pendelbewegungen von einer Schläfe zur anderen schwang und dabei über sein Gesicht wischte, beeindruckte uns schon damals, wie ein Mann in seinem Alter das durchhielt.

      Ich atme geräuschvoll aus, um meinen Trainingspartnern vorzumachen, wie sie atmen sollen, und schon rinnen die ersten Schweißtropfen. Auf jede Übungsreihe folgt eine Minute Schattenboxen. Monsieur Pierrot kommt zu mir und fühlt meine Stirn. Ah, langsam kommst du ins Schwitzen. Ja, Monsieur Pierrot. Mein imaginärer Gegner ist wieder berechenbar geworden. Schlechte Deckung, langsam, Schwinger. Er bekommt von mir Konter von allen Seiten. Wenn ich der Ringrichter wäre, würde ich den Kampf beenden. Links, links, rechts, Jonas! Er macht es mir vor und untermalt seine Schläge mit rauen Kehllauten und krächzender Stimme, äh, äh, äh, und ich bemühe mich, ihn nachzuahmen, und er: Siehst du, Jonas, so geht das, in aller Ruhe. Aber Fäuste hoch, Jonas, Fäuste vors Gesicht! Bu-bu-bumm, und dann weichst du