S. Sagenroth

A. S. Tory und die verlorene Geschichte


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      Nun freu­te ich mich auf Cam­pe­to, auf Chia­ras Groß­mutter Lu­do­vi­ca, ih­ren Vater Fe­de­ri­co, die Ta­ver­ne.

      »Wann sol­len wir nach Ve­ne­dig auf­bre­chen? Bei mir hat sich To­ry noch nicht ge­mel­det? Bei dir?«

      Chia­ra warf mir ei­nen be­deu­tungs­vol­len Blick zu. »Ja, hat er. Spä­tes­tens am Mon­tag­mor­gen müs­sen wir los. Ich ver­mu­te, dass es ihm zu hei­kel war, dich zu kon­tak­tie­ren. Immer­hin könn­te es sein, dass dei­ne Mutter dei­ne E-Mails kon­trol­liert. Könn­te ich bei ei­nem Aus­rei­ßer wie dir durch­aus ver­ste­hen.«

      Ich gab ein kur­zes Grum­meln von mir. Mei­ne Mutter hat­te das tat­säch­lich ein paar Mal ver­sucht, so­gar da­rauf be­stan­den, dass ich ihr das Pass­wort für den Lap­top und mein Mail­post­fach ge­be. Aber das war nur in den er­sten Mo­na­ten, da­nach war es ihr zu an­stren­gend ge­wor­den. Und es waren auch kei­ne Nach­rich­ten mehr von To­ry ge­kom­men.

      »Er hat mir ei­ne weite­re kryp­ti­sche E-Mail ge­schickt. Mit ei­nem al­ten Plan von Ve­ne­dig und zwei Fotos.«

      »Du machst mich neu­gie­rig.«

      »All­ora, ich wer­de dir alles zei­gen, so­bald wir zu­hau­se sind.« Chia­ra grins­te mich an. »Ich bin ge­nau­so ge­spannt wie du. Aber bit­te kein Wort zu mei­nem Vater. Er weiß ge­nau­so we­nig wie dei­ne Mutter. Und ver­mut­lich ist das bes­ser so.«

      Was hat­te es mit der Ve­ne­dig­rei­se auf sich? Die Fra­ge ließ mich nicht los. Ei­ne Wei­le schwie­gen wir. Wie im Vor­jahr hat­te Chia­ra ihr Tran­sis­tor­ra­dio da­bei und es lief Creep von Ra­dio­he­ad. Ein Song, der de­fi­ni­tiv kein Rum­ge­quat­sche ver­trug. Zu­dem sang sie ent­setz­lich falsch, da­für lauts­tark, mit.

      Nach den zahl­rei­chen Kur­ven, die sich von der Küs­te aus in das tos­ka­ni­sche Hin­ter­land schlän­gel­ten, war mir wie­der et­was übel. Doch als ich in der Ferne die dicht an­ein­an­der ge­schmieg­ten, hell­brau­nen Häu­ser, die ho­hen Pi­nien und Zy­pres­sen und wei­trei­chen­den Hügel mit Wein­stö­cken er­ken­nen konn­te, war es fast wie nach Hau­se zu kom­men. Wir tu­cker­ten durch die schma­len Gas­sen, bis wir die To­rein­fahrt der Ta­ver­na Da Ro­sa er­reich­ten. Der klei­ne In­nen­hof lag an die­sem Spät­nach­mit­tag im Schat­ten, aus den Fens­tern des un­te­ren Ge­bäu­des leuch­te­te warm das Licht aus der Ta­ver­ne. Die Kat­zen­fa­mi­lie schien Zu­wachs be­kom­men zu ha­ben. Ei­ne klei­ne Schwarz-Wei­ße, die ich letz­tes Jahr noch nicht ge­se­hen hat­te, saß zwi­schen den Ton­töp­fen im Hof und lug­te neu­gie­rig her­vor. Die bei­den Grau­en lagen in den Fens­ter­sim­sen und spran­gen uns ent­ge­gen, als wir knat­ternd an­hiel­ten. Chia­ras Vater er­schien in der Tür.

      »Ben­ve­nu­to Sid!«

      Graue Schlä­fen, ge­bräun­te Haut, ein gro­ßer, schlan­ker, stol­zer Ita­lie­ner mitt­le­ren Alters. Fe­de­ri­co hat­te mir schon letz­tes Jahr im­po­niert.

      »Deer wil­de Schwei­ne­hel­de!« Ein Grin­sen zog über sein Ge­sicht. Chia­ras Grin­sen. Die An­spie­lung auf mei­ne Flucht vor dem gro­ßen Cing­hia­le ließ mich er­rö­ten. Fe­de­ri­co war da­mals nicht so be­geis­tert da­von ge­we­sen, dass ich um ein Haar ei­ne un­schö­ne Be­geg­nung mit ei­nem aus­ge­wachs­enen Wild­schwein ge­habt hät­te und sie da­her die Jagd vor­zei­tig ab­bre­chen muss­ten. Aber er hat­te mir zum Ab­schied ei­nen Stoß­zahn des Kei­lers ge­schenkt, der seit­dem mein Ta­lis­man war und den ich auch jetzt an mei­nem Ruck­sack be­fes­tigt hat­te.

      Wir be­tra­ten den Gast­raum. Die Ti­sche waren für den Abend ge­deckt. Rot-ka­rier­te Tisch­de­cken. Wei­ße, zu Müt­zen ge­fal­te­te Ser­viet­ten. Glän­zen­de Wein­glä­ser in ver­schie­de­nen Grö­ßen. Die in den Wand­ver­tie­fun­gen des al­ten Ge­mäu­ers ein­ge­las­se­nen Leuch­ter spen­de­ten ein war­mes Licht. Ich er­in­ner­te mich an mei­nen er­sten Abend hier, das er­ste Glas Wein, Chia­ras Ver­wand­te und Freun­de, ei­nen völ­lig an­de­ren All­tag als bei uns zu­hau­se. Es waren an­ge­neh­me Er­in­ne­run­gen. Lu­do­vi­ca kam mir freu­de­strah­lend ent­ge­gen und hol­te mich aus mei­nen Be­trach­tun­gen. Die klei­ne Frau um­arm­te mich und be­dach­te mich dann mit ei­nem Schwall ita­lie­ni­scher Sät­ze, de­nen ich kaum fol­gen konn­te. Ich hat­te mir in den letz­ten Mo­na­ten Mü­he ge­ge­ben, et­was mehr Ita­lie­nisch zu ler­nen, den­noch war mir das ein­fach zu schnell, ich ver­stand aber so viel, dass sie ih­re Freu­de zum Aus­druck brin­gen woll­te, mich nach so lan­ger Zeit wie­der­zu­se­hen. Nach­dem ich mit Ge­sten und ver­schie­dens­ten Sprach­bro­cken Lu­do­vi­ca und Fe­de­ri­co be­grüßt hat­te, deu­te­te Chia­ra an, dass es Zeit wä­re, mein Zim­mer zu be­zie­hen. So folg­te ich ihr die schma­le Trep­pe zu den klei­nen Gäs­te­zim­mern hoch. Meins lag wie im vo­ri­gen Jahr ih­rem Zim­mer ge­gen­über. Ich stell­te mein Ge­päck ab und schon zog sie mich in ih­ren Raum. Auf ih­rem Schreib­tisch lagen drei Bil­der und ei­ne aus­ge­druck­te Mail. Neu­gie­rig nä­her­te ich mich. Chia­ra nahm den Papier­bogen mit der E-Mail und gab ihn mir. Ich setz­te mich auf ih­ren Schreib­tisch­stuhl und las.

       Ver­ehr­tes Fräu­lein Chia­ra, lie­ber Sid,

       es freut mich, dass Sie mei­ner Ein­la­dung ge­folgt sind. Viel­leicht kön­nen Sie mir mit Ih­rer Su­che Fra­gen, die ich mein Le­ben lang hat­te, be­ant­wor­ten und die Mau­er, die ich um mei­ne Ver­gan­gen­heit er­rich­tet ha­be, ein­rei­ßen. Es gab Zeiten, da hät­te ich das nicht ge­wollt. Jetzt füh­le ich mich be­reit und se­he ge­ra­de Sie bei­de als ge­eig­net an.

       Bin ich die Sum­me mei­ner Vor­fah­ren und mei­ner Ver­gan­gen­heit? Oder be­stim­me ich selbst, wer ich sein will? Kann ich mich immer wie­der neu er­fin­den? Was ma­chen Freund­schaft, Lie­be, Hass und Schuld mit mir? Be­kommt am Schluss alles ei­nen Sinn, soll man ver­zei­hen?

       Ich weiß es nicht, aber viel­leicht fin­den Sie bei­de ei­ne Ant­wort.

       An­bei ei­ne Adres­se, ein al­ter Stadt­plan und zwei al­te Foto­gra­fien. Ich wün­sche Ih­nen bei­den ei­ne gu­te Rei­se und bin ge­spannt, was Sie in Er­fah­rung brin­gen wer­den.

       Mit freund­li­chen Grü­ßen

       A.S. To­ry

      

      Chia­ra schau­te mich fra­gend an. »Und?«

      »In der Tat sehr kryp­tisch. Aber … macht echt neu­gie­rig. Er spricht von ei­ner Mau­er, die er um sei­ne Ver­gan­gen­heit er­rich­tet hat. Hm … Hass und Schuld? Ob der al­te Mr. To­ry et­was ver­bro­chen hat? Und was hat es mit die­ser An­zei­ge in sei­ner er­sten E-Mail auf sich?«

      Sie zuck­te statt ei­ner Ant­wort mit den Ach­seln. Man sah ihr an, dass sie eben­falls da­rüber nach­ge­dacht hat­te.

      Ich nahm die Bild­aus­drucke in die Hand. Auf ei­nem war ein Aus­schnitt aus ei­nem al­ten Stadt­plan ab­ge­bil­det. Auf ei­nem an­de­ren ei­ne al­te schwarz-wei­ße Foto­gra­fie mit ei­nem Mäd­chen und ei­nem Jun­gen, schwie­rig zu schät­zen, viel­leicht drei­zehn Jah­re alt, da­run­ter zwei Na­men: Gre­ta und Fritz.

      »Wer sind Gre­ta und Fritz?«

      »Ich kann es dir nicht sa­gen. Ist es To­ry? Ge­schwis­ter von To­ry? Freun­de? Der Jun­ge sieht dir üb­ri­gens