Plattform draußen blieben wir stehen. Wow! Vor uns der Blick auf die Stadt und den Canale Grande. Der Himmel blau-grau, auf dem Platz ein Getümmel an Touristen mit Fotoapparaten, Smartphones, Selfiesticks. Freche Möwen und lauernde Tauben, die erwartungsvoll zwischendrin rumstolzierten, um auf den Happen zu warten, der vielleicht doch abfiel.
»Komm ja nicht auf die Idee sie zu füttern! Das kann richtig teuer werden!«, warnte mich Chiara.
Das hatte ich nicht gewusst. Aber ich hatte eh fast alles aufgegessen, was Ludovica uns mitgegeben hatte.
Am Anlegesteg warteten zahlreiche dieser berühmten schwarzen Gondeln. Gut erkennbar an ihren schwarz-weiß-geringelten Shirts hielten die Gondoliere Ausschau nach der nächsten Touristenladung.
»Das da drüben mit der türkisfarbenen Kuppel ist die Chiesa San Simeon Piccolo. Und da vorne können wir gleich ein Vaporetto nehmen.«
Wir kauften uns Tagestickets und bestiegen zusammen mit anderen Reisenden eines der bereitstehenden Wassertaxis. Haltepunkt sollte für uns San Marco sein. Ganz in der Nähe hatte Emilia ihr kleines Hotel.
Die Fahrt auf dem Canale Grande war einzigartig. Chiara lachte und meinte, ich sähe köstlich aus, wenn ich dieses Staunen im Gesicht hätte. Sie formte mit dem Mund ein großes ›O‹. »Du siehst gerade aus wie einer dieser Porgs aus Star Wars, Episode acht. Du weißt, was ich meine? Diese lustigen Eulenvögel.«
»Was für ein hübscher Vergleich. Wenn ich mich recht erinnere, sahen die aber voll niedlich aus und waren die heimlichen Stars des Films.« Ich formte meinerseits ein auffälliges ›O‹ mit dem Mund und machte mit den Armen Flatterbewegungen. Eine junge japanische Touristin schaute mich erstaunt an und fotografierte mich dann, woraufhin ich den Blödsinn stoppte. Chiara kicherte. Ich bemühte mich im Anschluss, der Schifffahrt mit fest verschlossenem Mund zu folgen, aber nicht weniger aufmerksam und begeistert. Wir fuhren an uralten Gebäuden mit länglichen Fenstern, Rund- und Spitzbögen, Arkaden, Balkons, Ornamenten und Verzierungen vorbei, die dicht an dicht sich aus dem hellgrünen, leicht schlammig-trüben Wasser erhoben und die ich bislang nur aus Filmen und Werbeprospekten kannte: Rote, hellgrüne, gelbe oder braune Palazzi, manche davon breit, niedrig, lang gestreckt, mit Markisen, Säuleneingängen, die einen prächtig, andere verfallen, mit abblätternder Farbe, angenagt vom Zahn der Zeit und dem ewigen Spiel des Meeres. Dicht mit Algen bewachsene Holzpfähle, an denen das Wasser auf und ab schwappte. Überall kreuzten Gondeln und weitere Wassertaxis unsere Fahrtstrecke. Sonnenbebrillte Touristen, die sich gegenseitig filmten und fotografierten.
Bei San Marco legte das Vaporetto an und wir kletterten an Land. Ich hievte unsere Gepäckstücke aus dem schwankenden Schiff. Chiara holte ihr Handy hervor und rief die App auf, um den schnellsten Weg zu Emilias Hotel zu finden. »Maximal fünf Minuten. Wir müssen da lang.«
4. Emilia, Cannaregio und Bassani
Sie hatte diese alterslose Schönheit, die wenigen vergönnt ist. Große, dunkle, ausdrucksstarke Augen, lange Wimpern, bronzefarbene Haut mit nur vereinzelten Lachfältchen, ein schön geschwungener Mund, lässig hochgestecktes, schwarzes Haar. Sie trug ein einfaches bunt geblümtes Kleid, das dennoch nicht verbarg, dass sie eine sehr gute Figur hatte.
Ich sah Chiara an, dass sie, genauso wie ich, schlagartig begriff, wer Emilia war. Was hatte Chiara gemeint? Eine Bekannte von Federico? Diese Art, wie Emilia »la figlia di Federico« sagte, fiel mir sofort auf – etwas heiser und beiläufig. Während sie Chiara betrachtete, bemerkte ich eine Mischung aus Verlegenheit, Neugierde und Zärtlichkeit in ihrem Gesicht. Da war irgendwie klar: sie war mehr als nur irgendeine Bekannte. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass Chiara sich anschließend für ihre Verhältnisse recht wortkarg und keineswegs so locker und cool gab, wie sie üblicherweise war. Ich spürte, wie sie auch mich sofort mit Argwohn beäugte. Vielleicht hatte ich Emilia zu lange angestarrt und ihr etwas unbeholfen den Kasten mit dem Wein vom Podere Da Rosa überreicht. Woraufhin Emilia mir ein strahlendes Lächeln schenkte, was Chiaras Gesicht nochmals verfinstern ließ. Ich war daher froh, dass sie uns direkt im Anschluss das Hotel zeigen wollte. Es war eines dieser ganz schmalen kleinen Gebäude, die wir auch auf der Fahrt mit dem Vaporetto bereits gesehen hatten. Klein, aber nichtsdestotrotz beeindruckend. Die Außenwände waren dunkelrot angestrichen, die schmalen länglichen Fenster mit den gotischen Oberlichtern, wie man sie sonst nur aus Kirchen kannte, mit weißer Farbe abgesetzt. Als wir das Hotel betraten, konnten wir die Innenräume bewundern. Die Wände waren mit glänzenden Seidentapeten bezogen. Jeder Raum in einer anderen Farbe. Hier und da alte Schwarz-Weiß-Bilder von Venedig in dunklen Rahmen und Grünpflanzen auf kleinen Podesten. Über eine Seitentür gelangte man in einen Innenhof, überwuchert mit Efeu und Clematis, in dem sich eine alte Hollywoodschaukel und ein paar weiße, etwas rostige Bistrotischchen befanden. Emilia schwärmte, dass man hier schöne schattige Pausen einlegen könnte, auch etwas Ruhe fand von der Hektik der Stadt.
In dem kleinen Frühstücksraum waren die leuchtend roten Ledersessel absolute Eyecatcher. Dies alles hätte anderswo möglicherweise überladen oder kitschig gewirkt. Hier passte es aber. Es passte auch irgendwie zu Emilia. So hieß auch das Hotel wie sie. Hotel Emilia. Kurz, aber klangvoll. Wir folgten ihr auf der schmalen Treppe zu unseren Hotelzimmern im zweiten Stockwerk. Als sie dort mit anderen Hausgästen, die uns entgegenkamen, ein paar Worte wechselte, wurde mir spontan klar, dass sie den Charme und das Besondere des Hotels durch ihre Erscheinung noch unterstrich.
Emilia zeigte uns unsere Zimmer. Dabei hellte sich auch kurzfristig Chiaras Stimmung auf. Wir hatten Zimmer, die zur Kanalseite hinausgingen. Mit winzigen Balkons vor den Fenstertüren. Das eine war ganz in Dunkelgrün gehalten, das andere in Dunkelblau. In beiden Räumen standen schwarze schmiedeeiserne Betten mit strahlend weißer Bettwäsche und in den Nischen runde, marmorne Waschschüsseln ebenfalls auf schwarzen geschwungenen Metallgestellen.
»Mega! Bellissima!« Chiara war begeistert und Emilia lächelte sogleich glücklich und auch etwas erleichtert. Emilia erklärte, dass die Zimmer keine eigenen Duschen hatten, auf dem Flur befände sich jedoch ein Bad, das wir benutzen könnten. Sie hoffe, dass uns das nichts ausmachte. Wir beteuerten, dass uns das nicht stören würde. Chiara fragte mich, ob sie das grüne Zimmer haben könnte, was natürlich kein Problem für mich war.
Wir