des Kampfes, den ich gegen diese Hasskampagne führe, wurde ich ehrenvoll in die große Familie der Menschenrechtsverfechter aufgenommen. Die Proteste gegen ihn riefen Sympathie für mich hervor.
Die zehn internationalen Auszeichnungen, die ich im Laufe des vergangenen Jahres erhielt, und die Übersetzung meines Buches in fünf Sprachen belegen diese Solidarität. Wenn man am einen Ende der Welt für Demokratie, Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit streitet, rührt man damit an das Leben anderer, die am anderen Ende einen ähnlichen Kampf führen, und die starke Stimme der Solidarität verhindert, dass man im Stillschweigen ertrinkt.
Die Menschen in Europa wundern sich, warum Erdoğan trotz unzähliger Fehler, trotz seiner Wut und all der Repressionen seit so vielen Jahren in seinem Land und vor allem auch bei seinen Landsleuten in Europa nach wie vor derart populär ist.
Dafür gibt es verschiedene Erklärungen, eine lautet:
Er hat eine Geschichte.
Eine Geschichte, die ihm in der Politik sehr von Nutzen ist.
Er wuchs in einem Istanbuler Viertel auf, in dem viele Ausgegrenzte leben, sein Leben begann unter schlechten Voraussetzungen wie Bildungsmangel und Armut, doch er kämpfte gegen die Hindernisse auf seine Art an, dann musste er ins Gefängnis, weil er ein Gedicht vorgetragen hatte, später gelang es ihm, den Thron jener zu erobern, die ihn hinter Gitter gebracht hatten.
Das ist eine Erfolgsgeschichte, die großen Bevölkerungsgruppen, die wie er Diskriminierung, Armut und Bildungsmangel ausgesetzt sind, Hoffnung macht.
Allerdings geht die Geschichte böse aus:
Bis er den Gipfel des Erfolgs erreicht hatte, lebte Erdoğan in bescheidenen Verhältnissen; sobald er das Machtmonopol innehatte, ließ er einen der größten Paläste der Welt für sich errichten. Statt die Repression abzuschaffen, sagte er: »Jetzt ist die Reihe zu unterdrücken an mir«, und verwandelte die Türkei in ein gigantisches Freiluftgefängnis. Statt Bereicherung durch Diebstahl und Plünderung einen Riegel vorzuschieben, zog er es vor, »Jetzt sind wir dran« zu sagen und die Ressourcen des Landes großzügig seinen Anhängern zu kredenzen. Den Anschein des Staatsmanns, der sich um Frieden mit Kurden, Armeniern und allen Nachbarn bemüht und die Zukunft seines Landes in Europa sieht, legte er ab und verwandelte die Türkei in ein unterdrücktes, innerlich gespaltenes, einsames Land, das mit aller Welt zerstritten ist. All dies hüllte er in den Mantel der Religion. Er rühmte den Tod und machte seine Anhänger glauben, das Größte, was es im Leben zu erreichen gebe, seien Leichentuch und Märtyrertod. Kritik untersagte er.
Es stellte sich heraus, dass der Mann, der Knechten die Freiheit versprochen hatte, im Grunde nur selbst Herr über sie sein wollte.
Genau das ist es doch, was man Verrat am eigenen Land nennt.
Nun, auch ich habe eine Geschichte.
Als meine Mutter am Telefon sagte: »Mach dir keine Sorgen um mich, mein Platz ist bereit«, wusste ich, dass sie den Platz neben dem Grab meines Vaters meinte. Dass ich sie vielleicht nie mehr wiedersehen werde, ist der Preis dafür, dass wir unser Land gegen Repression, Diebstahl und Plünderei verteidigen.
Dass ich seit über einem Jahr meine Frau nicht haben treffen können, dass unser Haus, das wir vom Ersparten eines ganzen Lebens erworben hatten, nun von Konfiszierung bedroht ist und es das Bestreben gibt, mir die Staatsbürgerschaft zu entziehen, ist der Preis dafür, dass wir unser Land lieben.
Dass ich mich eines Tages selbst fand, als ich im Wörterbuch nach dem Wort »haymatlos« suchte, dass ich im Büro hinter vorgezogenen Vorhängen arbeiten muss, dass ich fern von meinem geliebten Land lebe, ist der Preis für den Kampf darum, dieses Land nicht einem islamofaschistischen Regime in die Hände fallen zu lassen.
Nun, auch jene, die ein Auge verloren, weil auf sie geschossen wurde, als sie im Gezi-Park um den Erhalt eines Baumes kämpften, haben eine Geschichte. Eine Geschichte haben auch die Frau mit Kopftuch und Plastikschuhen an den Füßen, die auf dem Markt festgenommen wurde, als sie dort das Brot für ihre Kinder verdiente; die junge Frau, die attackiert wurde, weil sie den Bus in Shorts bestiegen hatte; der Karikaturist, der zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er Erdoğan als Katze gezeichnet hatte; die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von der Universität geworfen wurden, weil sie einen Aufruf gegen das Blutvergießen unter Brüdern unterzeichnet hatten; jene, die jetzt von der Partei, der sie aufgrund ihrer Frömmigkeit ihre Stimme gegeben haben, in Armut und Bedürftigkeit allein gelassen werden; die Frau, die Polizisten wegzerrten, ihr den Arm brachen und rücklings Handschellen anlegten, als sie Rechenschaft für den Tod ihres fünfzehnjährigen Sohnes durch eine Tränengasgranate der Polizei forderte[2]; die Kurden, deren Abgeordnete und Vorsitzende – von ihnen gewählt, als man ihre Städte und Dörfer zerstörte – in Ketten gelegt wurden; die Aleviten, deren Türen mit roter Farbe markiert wurden – sie alle haben eine Geschichte.
Das Land weiß mittlerweile, wer es liebt und wer es ausraubt.
Manche Bücher liegen verlassen in einer Schublade und warten darauf, geschrieben zu werden. Andere sind ungeduldig, rufen laut: »Schreib mich!«, und drängeln.
Dieses Buch hätte ich schreiben können, wenn irgendwann die Wunden des Exils verheilt und vernarbt sind, doch ich wollte, dass man weiß, um welchen Preis wir Widerstand leisten, dass man sieht, wie wir innerlich bluten, und dass bekannt wird, wer der eigentliche Landesverräter ist.
Ich wollte, dass man sieht, dass die Mächtigen im Unrecht und die Schwachen im Recht sind. Dass die Schwachen stärker werden, wenn die, die sich im Unrecht befinden, an Macht verlieren.
Ich wollte, dass man erkennt, wie schwierig und zugleich existenziell notwendig es ist, trotz aller im Kampf erhaltenen Lädierungen die Fahne der Hoffnung zu schwenken.
Den deutschen Leserinnen und Lesern, die den Preis der Ein-Mann-Diktatur aus der eigenen Geschichte kennen, wollte ich näherbringen, welch bleiches Antlitz das schöne Land, in das sie in Urlaub fahren, hinter den Mauern der Ferienressorts hat.
Als Augenzeuge wollte ich davon berichten, wie das »arme, aber sexy« Berlin immer mehr auch zu einer gefährlichen, aber hoffnungsfrohen Stadt politischer Flüchtlinge wird.
Ich wollte verkünden, dass die Überreste einer alten Mauer, an denen mein Weg täglich entlangführt, mir davon spricht, dass kein Repressionsregime ewig währt, auch wenn es jetzt ungeheuren Kummer bereitet.
Ich widme dieses Buch dem mit einundachtzig Jahren verstorbenen Journalisten Mete Akyol, der mir wie ein großer Bruder war.
Eine Woche nach unserer Verhaftung war er mit einem Stuhl vor das Gefängnis gekommen, in dem wir einsaßen.
Mete Akyol vor dem Gefängnis in Silivri.
Es war Winter, es war eiskalt. Er stellte den Stuhl vor das Tor, setzte sich darauf, hüllte sich in seinen Mantel und las den ganzen Tag ein Buch.
Es war ein persönlicher Protest, die Warnglocke, die ein damals achtzigjähriger Meister in aller Stille anschlug.
Bevor er heimging, sagte er: »Ich war einen Tag lang hier. Wenn jeder meiner Kollegen auch nur einen Tag lang herkommt, kann Hoffnung daraus entstehen.«
Ab dem folgenden Tag kamen Journalisten zu Hunderten und standen mit ihren Stühlen Schlange, um sich an der »Wache der Hoffnung« zu beteiligen. Bald kamen die Menschen in ganzen Busladungen herbei und verwandelten den Platz vor der Haftanstalt in einen Kundgebungsplatz.
Die Aktion, die der junge Mann von achtzig Jahren eingeläutet hatte, hatte großen Anteil daran, dass ich heute frei bin.
Als ich aus dem Gefängnis kam, brachte er mir den Stuhl und schenkte ihn mir. Ich versprach ihn dem Pressemuseum.
Manchmal reicht ein hölzerner Stuhl aus, um einen goldenen Thron zu stürzen.
Can Dündar
August 2017
1