Eine Zeitung lässt sich nicht quasi per Fernbedienung leiten. Die neuen Umstände zwangen mich, sosehr es schmerzte, diese honorige Tätigkeit, gewissermaßen die Endstation meiner Berufslaufbahn, aufzugeben.
Ich nahm mein Notebook und setzte die Kündigung auf:
»Was mir in den letzten anderthalb Jahren, seit ich den Posten des Chefredakteurs der Cumhuriyet bekleide, widerfuhr, übersteigt alles, was ich in meinem ganzen Leben erlebt habe:
Angriffe, Applaus, Drohungen, zur Zielscheibe gemacht zu werden …
Anklage, Verhaftung, Gefängnis …
Isolation, Gefangenschaft, Attentat …
Beleidigungen, Auszeichnungen, wiederholte Ermittlungen, ein Prozess nach dem anderen …
Rechnungen präsentiert zu bekommen für den Wettlauf zwischen unserem journalistischen Enthusiasmus und der Phase massiver Repressionen …
Den Preis dafür zu bezahlen, mich nicht gebeugt zu haben, worauf ich ebenso stolz bin … (…)
Der Justiz zu vertrauen bedeutet unter den derzeitigen Umständen, den Kopf freiwillig der Guillotine hinzustrecken, deshalb habe ich beschlossen, mich dieser Justiz nicht zu stellen – zumindest für die Dauer des Ausnahmezustands. Den Kampf gegen das repressive Regime setze ich selbstverständlich mit derselben Entschlossenheit fort.
Seid gewiss, dass ich meine Stimme nur umso stärker erheben werde.
Die Widersacher sollen nicht triumphieren, die Freunde sich nicht grämen.«
Das zu schreiben, schnürte mir die Kehle zu.
Am Gaumen der saure Geschmack von Abschied …
In den Ohren das Knirschen der launig geriebenen Hände der Profiteure …
In der Nase der schwache Geruch von Einsamkeit …
Irgendwo im Kopf eine Stimme: »Du tust das Falsche …«
Mir war, als würde ich nicht aus einer Position, sondern aus einem Stück Erde gerissen.
Nicht unter ein Schreiben setzte ich einen Punkt, sondern unter ein Kapitel meines Lebens.
Als der Text stand, ging ich raus, lief niedergeschlagen zwei Stunden durch die Gegend. Anschließend setzte ich mich in eine spanische Bodega und versuchte nachzudenken.
Das Leben galoppierte in irrsinnigem Tempo, es war schwierig geworden, die Zügel in der Hand zu behalten.
Jede Entscheidung bedeutete zwangsläufig Abschied von etwas anderem.
Innerhalb weniger Wochen war mir zunächst mein Land, dann meine Familie, auch mein Zuhause und schließlich noch mein Job entglitten.
Wie ein vom Baum gerissenes Blatt schwebte ich im Ungewissen. Ungewiss, wohin der Sturm mich treiben würde.
An dem Tag, als Erdoğan sagte, die Regierungsform der Türkei habe sich de facto geändert, packte ich in Barcelona meine Bücher zusammen. Meine Sachen stopfte ich in den Rucksack wie eine Schildkröte, die ihr Haus bei sich trägt.
Nach all den Jahren besaß ich gerade noch so viel, wie in meinen Rucksack und ein paar Koffer passte.
Das löste bei mir aber weniger Wehmut aus, wie sie Exilanten zu eigen ist, als vielmehr das Freiheitsgefühl eines Wanderers.
Jahre zuvor hatte man mich alleingelassen, als ich mein Recht suchte, damals schrieb ich einen Artikel darüber: Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.
Die Verfassung, die ich darin beschrieb, hatte erneut bei mir angeklopft.
Nach langen Jahren war ich zum ersten Mal wieder allein.
7 Einsamkeit
Man muss seine Koffer stets gepackt halten.
Muss damit rechnen, dass das Telefon einen ganzen Tag lang gar nicht klingelt.
Muss aufhören, hinter der Gardine nach einem Gast Ausschau zu halten.
Muss darauf vorbereitet sein, verraten, verlassen und allein gelassen zu werden.
Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.
Denn die Zeit der »Schulter-an-Schulter«-Tage ist vorbei. Solidarität ist nun eine Aktie, die an der Börse von heute auf morgen an Wert verliert. Die persönliche Epoche der Entdeckungen hat brüchige Einsamkeiten zurückgelassen. Es ist nicht die Zeit, Kraft aus Gemeinsamkeit entstehen zu lassen, es ist die Zeit, allein aufrecht zu stehen.
Darum muss man sich an die Einsamkeit gewöhnen.
Muss es wagen, mit vielen Straßenvoll Trostlosigkeit allein zu leben.[6]
Muss auf den Schnee auf Bergen schauen, denen man vertraut, und seine Lehren daraus ziehen.
Muss die Gewohnheit fallenlassen, sich in Nächten, die man mit einem wehmütigen Lied verbringt, nach einer Schulter zum Anlehnen zu sehnen.
Muss sich an einen einzigen Teller auf dem Tisch gewöhnen und an wenig Speise darauf.
Muss aus Romanen Zitate, die Einsamkeit preisen, überall in der ganzen Wohnung sichtbar aufhängen.
Muss jeden Tag beginnen mit den Zeilen: Einsamkeit kann man nicht teilen / Wird sie geteilt, ist sie keine Einsamkeit mehr.[7]
Muss den Anrufbeantworter besprechen: »Im Moment ist niemand da, der antworten könnte – vielleicht wird auch nie mehr jemand da sein …«
Muss sich mit dem Schweigen anfreunden, damit, keine Antworten zu erhalten.
Dabei bedeutet Schweigen, dem Unrecht zu applaudieren. Es ist die Würde des »Ich bin im Recht«, die einem Lebenskraft spendet. Die Scham des Schweigens tötet. Deshalb muss man sich in den stillsten Nächten tröstend sagen: »Es war richtig, ich habe es getan.«
Man muss sich daran gewöhnen, dass auf einen Schrei hin kein Nachbar zu Hilfe eilt, daran, vor kalten Mauern still zu weinen. Muss sich mit sich selbst auseinandersetzen.
Muss bereit sein, nachts ins Kissen zu weinen, morgens in den Spiegel zu lachen, Schmerz und Wehmut ebenso wie Lust und Laune mit sich selbst zu teilen.
Muss stark genug sein, um stets aufstehen und gehen zu können, zugleich aber beherzt genug, um bleiben zu können, als würde man kämpfen. Muss Schweigen in Reden verwandeln können.
Und muss jeden Augenblick seinen Rucksack bereithalten.
Muss sich damit anfreunden, unterwegs zu sein.
Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen.
8 Der Brand
Als ich die Zeitung aufschlug, stieß ich auf folgende Meldung:
»Auf Anordnung des Erziehungsministeriums wurden 900000 Bücher vernichtet. Grund für die Vernichtung des Arbeitsbuchs Türkisch für die 8. Klasse war, dass darin als Lesetext der Artikel Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen von Can Dündar enthalten war …«
Ich konnte es nicht glauben.
Es war also so weit, dass mein Name aus Büchern getilgt wurde.
Nach der Vernichtung von 900000 Lehrbüchern, in denen mein harmloser Text stand, ließ das Ministerium das Buch ohne meinen Text neu drucken. Das kostete die Steuerzahler umgerechnet 566000 Euro.
Unwillkürlich fallen einem dabei die öffentlich inszenierten Bücherverbrennungen der Nazis ein. Vor Jahren hatte ich von Erich Kästners Tragödie gelesen:
Als Studenten, begleitet von SS und SA, von Joseph Goebbels aufgehetzt auf dem Berliner Opernplatz Bücher verbrannten, stand auch Kästner in der Zuschauermenge. Unter den verbrannten Büchern befand sich auch eines von ihm.
Ich wohnte der Zeremonie, in der das Buch mit meinem Text vernichtet wurde, nicht bei. Doch selbst von Europa aus vernahm ich den Geruch verbrannten Papiers.