Uwe Trostmann

Wie die Nummer 5 zum Halten kam


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was ich berichte, muss sich so abgespielt haben. Diese Erinnerungen habe ich im Laufe mehrerer Jahre aufgeschrieben. Oft nutzte ich die Zeit auf nächtlichen Transatlantikflügen dazu. Jedes Mal, wenn ich später ehemalige Klassenkameraden getroffen hatte, wurde die eine oder andere Episode verändert oder ergänzt. Manchmal gab es unterschiedliche Sichtweisen.

      Horst Heitzler, der leider zu früh verstarb, und Peter Tritschler haben mir sehr geholfen. Beide Freunde waren schon in den ersten Jahren mit dabei. Auch wenn wir uns später für einige Jahrzehnte aus den Augen verloren hatten, so trafen wir uns doch wieder. Horst und Peter danke ich ganz herzlich für ihre Anregungen und ihre Hilfe.

      Ein neuer Anfang

      Vielleicht gibt es tatsächlich eine Vorbestimmung. Ich erinnere mich, dass ich oft einen neuen Anfang suchen musste. Das passierte mir in meinem privaten Leben ebenso wie in meinem beruflichen. Ich wurde Wissenschaftler, genauer Chemiker, und später medizinischer Wissenschaftler. Vieles im Labor, ich möchte behaupten, das meiste, lief nicht so, wie es auf dem Papier geplant war. Da fügten sich chemische Bindungen nicht zu neuen Substanzen zusammen, oder wenn nach 20 Versuchen der neue Stoff tatsächlich synthetisiert worden war, zeigte er entweder nicht die gewünschten chemischen Eigenschaften oder später nicht die gewünschten biologischen Wirkungen im Zellexperiment.

      Noch einmal von vorne, zurück auf Start war die Devise. Langanhaltende Enttäuschung war nicht erlaubt. Als Wissenschaftler lernte ich, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen. Diese Beharrlichkeit hatte ich mir schon als Kind aneignen müssen, denn meine Mutter gab mir zu verstehen, dass das einmal nicht Gelungene so oft wiederholt werden musste, bis es klappte. Fiel mein Bauklotzturm zusammen, so sollte ich ihn wieder aufbauen, aber so, dass er stehen blieb. Gefiel mir ein Bild nicht, sollte ich es neu malen. Konnte ich eine Rechenaufgabe nicht lösen, ermutigte mich meine Mutter so lange nachzudenken, bis ich das Resultat gefunden hatte. Manchmal war es später eine Art Wut über den Misserfolg, die mich zum erneuten Versuch antrieb.

      Und so lernte ich, vermeintlich unlösbare Aufgaben zu lösen. Handwerklich bin ich nicht mit besonders viel Fingerspitzengefühl ausgestattet. Dennoch baute ich später ein paar Regale oder Lautsprecherboxen selber und sägte und schraubte so lange daran herum, bis das Ergebnis gut war. Der Stolz auf die gemeisterte Aufgabe war und ist meine antreibende Kraft. Ähnlich muss es anderen in der Jugend ergangen sein, die danach auch Naturwissenschaftler geworden waren. Nur so waren sie später in der Lage, Experimente im Labor so lange zu wiederholen, bis sie das gewünschte Ergebnis bekamen oder sagen konnten, so geht es nicht. Ich konnte es später verschmerzen, dass ich vom Vater nie ein Lob erhalten hatte. Er hatte die meisten Sachen gar nicht erst angepackt, wenn er nicht zu 100 Prozent sicher gewesen war, dass er die Aufgabe bewältigen konnte. Später erkannte ich, dass es solche bei ihm nicht häufig gegeben hatte.

      In meinem privaten Leben brauchte ich zum Glück nicht 20 oder mehr Anläufe, bis eine neue Beziehung stand, eine Wohnung oder ein Haus gebaut worden war. Das hätte mich schon frühzeitig die letzten Kräfte gekostet und mein Konto schnell geleert. Bis heute habe ich es auf drei längerfristige Beziehungen gebracht. Dazwischen liegen ein paar kurzfristige.

      Einige meiner Bekannten sind öfter umgezogen oder hatten mehr Jobs als ich. Doch einige taten sich schwer damit. Und das war mein Vorteil: Ein Ende ist immer schmerzhaft, ich kam aber schnell wieder auf die Füße. Im Labor hatte ich keine Zeit, tagelang über eine missglückte chemische Reaktion zu jammern. Stattdessen musste ich schnell Erklärungen finden und mir einen neuen Ansatz überlegen.

      Meine Generation wuchs noch mit der Erwartung in die Arbeitswelt hinein, dass der erste Job bis zur Rente in ein und derselben Firma gemacht werden könnte. Doch bald wurden wir eines Besseren belehrt. Es begann die Zeit der Firmenübernahmen, in deren Folge Abteilungen und Aufgaben „konsolidiert“ wurden. Wir lernten schnell, dass das eine bessere Bezeichnung für einen Rausschmiss war. Personalberater machten uns Mut zu einem Neuanfang. Ein solcher sei immer eine neue Chance, sagten sie. Ich hatte Glück damit, andere weniger. Schon bald mussten wir lernen, dass sich dieses Karussell aus Firmenübernahmen, Umorganisationen oder Projektentscheidungen immer schneller drehte. Viele hielten diesem Druck nicht stand. Rückblickend stelle ich allerdings fest, dass gerade unsere Generation, die in den Fünfzigerjahren geboren wurde, recht gut damit umgehen konnte. Die meisten haben durchgehalten. Lag das auch an den schwierigen Startbedingungen? Hatten die uns für das Durchhalten geprägt?

      Missglückte menschliche Beziehungen kann ich, wie die meisten, nicht so einfach wegstecken. Ich konnte diese Probleme weder mit meiner Labormethode lösen, noch hatte ich dafür einen Personalberater. Die Erfahrungen möchte ich dennoch nicht missen.

      Jetzt bin ich dabei, mein Haus auszuräumen, das ich mit meiner ersten Frau vor 34 Jahren gebaut habe. Ich suche einen Neuanfang mit meiner Lebenspartnerin; wir bauen ein gemeinsames Haus in einer anderen Stadt. Ich bin jetzt 66 Jahre alt und frage mich, ob ich diesen Neuanfang auch noch so problemlos hinbekomme. Nachdem die ersten Kisten gepackt sind, merke ich den Unterschied: Hier geht es nicht um eine Erinnerung an gestern, sondern um Jahrzehnte. Meine Eltern sind vor zehn Jahren gestorben. Sie haben Erinnerungsstücke hinterlassen: Hochzeitsgeschirr, Fotoalben, Familienunterlagen. Unweigerlich beginne ich darin zu blättern. Unsere erste Wohnung in Freiburg. Klein war sie für heutige Verhältnisse. Meine Mutter steht auf dem Balkon. Offenbar hatte sie gerade Wäsche aufgehängt.

      Angekommen in den Fünfzigern

      Recht bescheiden und bunt hatte es bei uns angefangen. Bunt gemischt, beinahe multikulti nach heutigen Maßstäben: Aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Baden und Freiburg stammten die Nachbarn. Rudi, Horst, Kai, Christiane, Heiko, Werner, wir Kinder kannten keine Unterschiede. Wir wohnten im Freiburger Stadtteil Haslach, in einer Siedlung, die in den fünfziger und sechziger Jahren erbaut wurde. Aus heutiger Perspektive sahen die Häuser nicht nur nach Sozialwohnungen aus, es waren auch solche. Drei Stockwerke hoch, zwischen vier und acht Eingänge, drei Wohnungen auf jeder Etage.

      Gleichmäßig waren sie gebaut, weiß verputzt, die Fensterrahmen weiß gestrichen. Der Fahrradkeller hatte einen Ausgang zum Hinterhof. Er war meist verschlossen, jeder sollte durch den Haupteingang kommen und gehen. Unser Hauseingang lag zur Straße, andere Häuser hatten ihn zum Hof. Vier Häuserblöcke waren um einen Hof gebaut. Der größte Teil des Platzes bestand aus einer Rasenfläche, an deren Enden jeweils rechteckige kleine Bereiche mit Steinplatten belegt waren. Darauf befanden sich Teppichstangen. Teppiche hatten schon viele Familien, denn ständig hing einer dort. Außer wenn es geschneit hatte, denn dann wurden die Teppiche mit der Oberfläche auf den Schnee gelegt, und unsere Mütter bearbeiten sie mit dem Teppichklopfer. Zurück blieb ein brauner Abdruck, den unsere Mütter mit Wohlgefallen betrachteten – denn der Teppich war nun sauber. Diese Häuserblocks waren unser Zuhause, der Ort, an dem wir wohnten und spielten. Von dort aus gingen wir später zur Schule. Das Viertel war sauber und gepflegt, jeder Bewohner sorgte dafür. Die Mieter der Erdgeschosse säuberten die Wege vor dem Haus, die anderen kümmerten sich um die Treppenhäuser.

      „Wir sind Flüchtlinge“, sagte mein Vater. Er wollte damit klarstellen, dass er und Mutter ohne Hab und Gut aus dem Krieg gekommen waren. Er betonte im nächsten Satz aber auch, dass sie schon viel erreicht hatten. Ein gewisser Stolz klang mit, und er wollte sich auf keinen Fall in die zweite Reihe stellen. Vater organisierte für mich einen Vertriebenenausweis. Er meinte, das Papier könnte noch einmal nützlich sein. Als ich Jahre später bei der Wohnungssuche auf die Frage, ob ich Vertriebener sei, diesen Ausweis vorlegte, begriff ich, dass dieses Papier nichts wert war. Ich war kein Flüchtlingskind, sondern hier geboren. Warum sollte ein Nachkriegskind auch Vorteile haben?

      Die Mitglieder sind nicht besonders groß. Mein Vater Erich, 1,68 Meter groß in seiner besten Zeit, schlank, lange Zeit durch seine körperliche Arbeit im Garten gut durchtrainiert, war ein cholerischer Mensch, der sich oft nicht unter Kontrolle hatte. Er sah diese Eigenschaft als Stärke an und setzte sie bewusst ein, wenn er bei Liselotte, meiner Mutter, etwas erreichen wollte. Seine dunklen, in früheren Jahren schwarzen Haare waren stets streng nach hinten gekämmt, beim Ausgehen mit Pomade. In seinem Auftreten machte sich seine lange Soldatenzeit bemerkbar: Wenn er konnte und durfte, spielte er den befehlenden Oberkommandierenden, wenn nicht, den unterwürfigen, befehlsempfangenden Soldaten. So sahen wir ihn aus dem Haus marschieren, mit gerader Haltung,