Pfeifle, die kleinen Läden und später das erste Lebensmittelgeschäft mit Selbstbedienung, der „Gottlieb“. Ein Stück weiter weg der rundliche, nette Kinderarzt Dr. Bohn, ein Schneider, eine Apotheke. Ein paar Hundert Meter weiter in der Markgrafenstraße war die Metzgerei Meier und daneben der Konsum. Durch das Zentrum des früheren Dorfes mit dem Brunnen führt noch heute die Carl-Kistner-Straße, an der das KfA lag, das Kaufhaus für Alle, außerdem gab es Fahrrad Lickert, dann das Kino neben dem Gasthaus Hirschen und schließlich Schreibwaren Braun, wo wir unsere Schulsachen kauften. Am anderen Ende dieses Zentrums war die Karosseriewerkstatt Baab. Um die Ecke die Pestalozzischule, und in der anderen Richtung ging es zu den Franzosenbauten. Französisches Militär war noch lange in Freiburg stationiert. Durch einen Seiteneingang der Schule erreichte man das Volksbad für Leute, die kein eigenes Bad in der Wohnung hatten. Klassenkameraden, die noch in den Mietshäusern der Vorkriegszeit lebten, besuchten es regelmäßig. Eines dieser Viertel lag um den Nonnenmattenweg, einige Klassenkameraden kamen von dort. Samstags herrschte Hochbetrieb im Volksbad. Ich sah das Volksbad nie von innen. Unsere neuen Wohnungen hatten schon den Luxus eines eigenen Bades.
Das war meine, unsere Welt. Erste Schritte unternahm ich alleine im Luckenbachweg und in der Karl-Kistner-Straße, einem Gebiet mit Mietwohnungen, schnell errichtet in den Fünfzigerjahren. Für die vielen Flüchtlinge mit ihren Nachkriegskindern musste Wohnraum bereitgestellt werden. Hier wurden einige Hundert Familien untergebracht.
Zwischen den Häusern wuchs Rasen, Platz zum Spielen. Und Kinder gab es auch genug. Viele Eltern waren nicht mehr die Jüngsten und gehörten zur Kriegsgeneration. Es gab wieder Arbeit und Essen, und jetzt zu Friedenszeiten wurden erst einmal Kinder gezeugt. In beinahe jeder Wohnung gab es Kinder. Die Straßen konnten wir nicht erobern, denn schon damals gab es hier einigen Autoverkehr. Und da war die Straßenbahn Nummer 5: Laut rumpelnd, bimmelnd, außen mit braunem Holz verkleidet, gelegentlich mit einem Anhänger, zog sie vorbei. Respekt hatten wir vor ihr, gefahren sind wir nicht so oft. Wir hatten kaum Geld dafür. War die Stadt das Ziel, so liefen wir zu Fuß.
Manchmal war die nette Verkäuferin in der Bäckerei großzügig, und ich bekam ein Bonbon. Das war ein Grund, mit zum Einkaufen zu gehen. Peinlich wurde es, wenn Mutter ein Gespräch anfing und ich zum Thema dieser Unterhaltung wurde. Ein paar kleine Läden in der Umgebung, ein Lebensmittelladen, ein Friseur, ein Pferdemetzger, der aber bald verschwand. Ein paar Jahre später machte ein Gottlieb bei uns auf, der erste Supermarkt mit Selbstbedienung. Der Einkauf ging schneller, man konnte besser auswählen, man wurde anonymer. Das Einkaufen verlor seinen sozialen Charakter. Ich kam mir ziemlich verloren in diesem Laden vor, wenn Mutter mich zum Einkaufen schickte. Ich ging nicht gerne dorthin. Ich fand es einfacher, eine Bestellung aufzugeben, als selber das gewünschte Produkt zu suchen. Manchmal kam ich mit dem Falschen zurück. Nach und nach machten die kleinen Läden zu. Ebenso der Metzger. Sie konnten nicht mehr gegen den Supermarkt bestehen. Erst später sind mir die Veränderungen bewusst geworden, die in meinen sechzehn Jungenjahren stattgefunden hatten. Die 5 fuhr jetzt auch nicht mehr. Ein Bus hatte sie abgelöst.
Und es gab die Schule, den größten Bau der Gegend. Für mich gewaltig, dunkel, Furcht einflößend. Lange habe ich einen Bogen um das Gebäude gemacht. Vielleicht lag es auch an meiner Mutter. „Wenn du in die Schule kommst, beginnt der Ernst des Lebens“, sagte sie zu mir. Was war denn der Ernst des Lebens? Meinte sie, dass ich dann nicht mehr spielen durfte? Oder doch etwas anderes? Sie machte mir Angst mit diesem Spruch. Aber der Tag kam, dann schluckte uns dieser Bau für ganze zehn Jahre.
Unser Schulweg war kurz. Morgens holte ich meinen Freund Rüdiger ab. Meistens schickte Mutter mich zu früh.
„Lieber zu früh sein als zu spät“, war ihre Meinung. Das sitzt noch heute in mir. Rüdiger verließ das Haus immer pünktlich, sodass ich vor dem Haus auf ihn warten musste. Mittags ging es in einem Trupp zurück. Fünfzehn Minuten galt es wieder nach Hause zu laufen, falls uns nicht etwas von unserem Weg abgelenkt hatte: Eine Baustelle, wo wir dem Bagger zuschauten, ein neues interessantes Auto oder eine Prügelei unter Schülern. Mein Freund Horst und andere waren dabei, auch Mädchen, die in unserem Quartier wohnten. Es war ratsam, pünktlich zuhause zu sein. Das Essen kam auf die Minute auf den Tisch, wie von Vater befohlen. Und der Sohn hatte auch dort zu sitzen. So waren die Sitten, zumindest in unserer Familie.
Brunhilde war in der Mädchenklasse, und sie wohnte direkt nebenan. Mutter hatte viel Kontakt zur Nachbarin. Sie nähten und strickten zusammen, und immer, wenn Vater wieder einmal mit schlechter Laune nach Hause gekommen war und meine Mutter, wie so oft, wegen nichts zur Schnecke gemacht hatte, heulte sie sich bei der Nachbarin aus.
Brunhilde und ihre Familie hatten schon einen Fernseher. Nachmittags kamen Märchenfilme. Die durfte ich ansehen, fand sie aber schrecklich. Ich war so ergriffen vom sterbenden Schneewittchen, dass ich heulend in unsere Wohnung zurückrannte. Ich habe nie wieder Märchenbücher gelesen oder Märchenfilme angeschaut. Heute vermute ich, dass mich schreckliche Stiefmütter und prügelnde Väter zu sehr an die Stimmung bei uns zu Hause erinnerten. Ansonsten waren Brunhilde und ich keine Spielkameraden. Ich war in meiner Freizeit die meiste Zeit bei den Jungs. Brunhilde und ich verloren uns aus den Augen, als Brunhilde auf eine andere Schule ging. Durch den Kontakt der Mütter trafen wir uns aber einige Jahre später wieder. Mein Interesse war nun allerdings ein anderes. Ich war inzwischen in der Pubertät und hatte angefangen, mich für das weibliche Geschlecht zu interessieren. Wir plauderten und tanzten Stehblues im Wohnzimmer, bis ihre Mutter ins Zimmer kam. Das war der erste körperliche Kontakt zu einem Mädchen. Die Geschichte mit den Märchenfilmen hat Brunhilde netterweise nie erwähnt.
Bei Doktor Bohn saß ich regelmäßig im Wartezimmer. Mehrmals im Jahr quälte mich eine Mittelohrentzündung. Antibiotika wurden noch selten verschrieben. Bei Schmerzen legte meine Mutter mir einen warmen, ölgetränkten Lappen aufs Ohr. Hinterher ging es zum Arzt. Der blies Luft in meine Nase, und ich musste „Kuckuck“ sagen. Das tat eindrücklich weh. Ich war schon etwas älter, als meine Mutter meinte, ich könne auch allein zu Dr. Bohn gehen. Manchmal habe ich mich vor dieser Tortur gedrückt. Ich sagte, dass ich zum Arzt ginge, versteckte mich aber irgendwo. Doktor Bohn verpetzte mich nie.
Keine guten Erinnerungen habe ich an den Zahnarzt. Sein Name ist mir entfallen, jedoch nicht seine Methoden, wahrscheinlich die Methoden der damaligen Zeit. Eine Helferin hielt mich fest, wenn er mit seiner Bohrmaschine in meinem Mund herumfuhrwerkte. Es tat fürchterlich weh. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nur einmal eine Betäubungsspritze bekommen zu haben. Die Zahnarzthelferin drückte mir allerdings zusätzlich ein Gerät in die Hand, auf das ich je nach Schmerzen stärker und intensiver drücken konnte. Das Gerät, an dessen Form ich mich nicht erinnere, machte daraufhin einen fürchterlichen Lärm. Falls von diesem Lärm die Schmerzen weniger werden sollten, so hat dieses Gerät seine Aufgabe verfehlt. Leider musste ich häufiger zum Zahnarzt. Ein Grund war sicherlich, dass ich gerne Bonbons naschte. War der Zusammenhang zwischen Zucker und Karies zu dieser Zeit wirklich noch nicht bekannt? Als Belohnung für die überstandene Folter schenkte mir der Zahnarzt beim Abschied ein Bonbon, damit ich ihn bald wieder beehren konnte!
Ein Bach war überbaut worden, aber ein paar Meter floss er in zwei Metern Tiefe, an beiden Seiten durch Mauern begrenzt, offen durch unser Viertel. Ein Mädchen, das ich vielleicht zu oft geärgert hatte, warf mich einmal hinein. Ich war kurz bewusstlos gewesen, denn als ich aufwachte, lag ich oben neben dem Bach auf dem Weg. Der Retter wusste, wo ich wohnte. Meine Mutter behielt einen kühlen Kopf, wechselte meine Kleider und brachte mich zum Arzt. Doktor Bohn schickte mich mit Gehirnerschütterung ins Bett. Dem Mädchen tat es leid, und sie schenkte mir ein frisches Ei. In ihrem Schrebergarten hielten ihre Eltern Hühner. Ich war gerührt und verzieh ihr. Ich machte allerdings in Zukunft einen großen Bogen um sie.
Ganz in der Nähe unseres Viertels fuhren lange Güterzüge regelmäßig über den Fluss Dreisam. Die riesigen schwarzen Lokomotiven faszinierten uns. Im Sommer legten wir uns auf den schmalen Fußweg neben den Schienen und ließen uns von der vibrierenden Zugbrücke durchrütteln. Die Lokomotive und die Güterwagen verbreiteten einen höllischen Lärm. Wir lagen auf dem Boden und schrien dagegen an. Wir hatten eine riesige Freude dabei. Manchmal trauten wir uns auf die Gleise und horchten auf den nächsten Zug. Ganz geheuer war mir das aber nicht, obwohl wir die Gleise über mehrere Kilometer im Blick hatten. Irgendjemand war aber immer dabei, der