Uwe Trostmann

Wie die Nummer 5 zum Halten kam


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In manchen Jahren wurde Tage vorher ein Karpfen gekauft, in unsere Badewanne gesetzt, dort mit Fischfutter versorgt bis zum 24. und anschließend geschlachtet. Frische Luft im Badezimmer war für Vater wichtig, und durch das offene Fenster kam auch der Frost hinein. Einmal waren Wasser und Karpfen am nächsten Morgen gefroren. Meine Mutter ließ heißes Wasser einlaufen, befreite den Karpfen und richtete ihn für den Kochtopf.

      Am Abend durfte der Baum im Lichterglanz erstrahlen. Ich wurde ins Wohnzimmer gerufen, wo sich die Eltern richtig an ihren Geschenken für mich erfreuten. Beim Abspielen der obligatorischen Weihnachtslangspielplatte packte ich meine Geschenke aus. Die Eltern saßen in ihren Sesseln, neben sich ein Glas Wein, und zeigten das freundlichste Lächeln des Jahres. Für Vater war das genug an Freundlichkeit. In den meisten Fällen gefielen mir die Sachen tatsächlich. Mutter schleppte anschließend strahlend ihren neuen Mantel ins Zimmer, den sie sich in den letzten Tagen hatte kaufen dürfen. Vater packte seine Krawatte aus oder Socken, mit dem Kommentar:

      „Was soll ich denn damit? Das habe ich doch schon.“ Dabei hatte sich Mutter viel Arbeit mit dem Aussuchen dieser Geschenke gemacht. Bei so viel Freude verzog ich mich oft in ein anderes Zimmer, um meine neuen Spielsachen oder Bücher genauer anzusehen. Um etwas 10 Uhr abends verließen meine Eltern das Wohnzimmer und machten sich für die Nacht bereit. Der letzte Kommentar von Vater war:

      „Dann hätten wir Weihnachten auch hinter uns gebracht.“

      Der größte Teil meiner Spielsachen befand sich in Regalen und Schubladen in der Küche. War der Küchentisch frei, habe ich ihn mit Bauwerken aus Holzklötzen vollgestellt. Auch Bagger und Lastwagen fuhren hier hin und her. Hier war ich versunken in meine Spielwelt. Da im Winter tagsüber meistens nur die Küche beheizt wurde, saß meine Mutter dabei und verrichtete ihre Arbeit.

      Die Küche war mit einem Kohleofen ausgestattet, das Anheizen war eine Spezialität von Vater. Er warf so viel Holz und Kohle hinein, bis die Oberfläche glühte. Mutter hatte jedes Mal Angst, dass die Wohnung abbrannte. Im Bad, wo es eine Badewanne gab, musste das Fenster immer offen sein, so hieß es, auch im Winter. Heißes Wasser kam aus einem Gasboiler, in der damaligen Zeit ein modernes Gerät für diese Wohnungen. Meine Mutter hat sich mehrmals beim Anzünden mit einem Streichholz die Finger verbrannt. An eine Heizung in diesem Raum kann ich mich nicht erinnern. Am Badetag diente der heiße Wasserdampf zur Erwärmung des Raumes. Jahre später wurde ein kleiner elektrischer Heizofen angeschafft. Allerdings durften zur selben Zeit keine anderen großen Stromverbraucher eingeschaltet sein. Die Stromsicherung hielt das nicht aus.

      Die Winternächte in unseren Wohnungen waren kalt. Die Wände waren noch nicht gut isoliert, die Fensterscheiben hatten zwar schon ein Doppelglas, hielten aber die Kälte nicht besonders gut ab. Irgendwann in der Nacht ging die Glut im Ofen aus, und ich zog meine Bettdecke noch weiter über die Ohren. Morgens gab es dann ein besonderes Schauspiel an den Fenstern: Es hatten sich Eisblumen gebildet. Ging die Sonne auf, so schmolzen sie langsam vom Rand her weg. Ich hatte nicht nur meine Freude an den gleichmäßigen Strukturen dieser wunderschönen kalten Blumen, sondern ebenso daran, wie sie von den Sonnenstrahlen langsam aufgelöst wurden.

      Der Balkon wurde nach den Eisheiligen mit Geranien bepflanzt, der Stolz meines Vaters. Sie wurden von ihm gehegt und gepflegt wie kein anderes Wesen im Haushalt. Im Herbst zurückgeschnitten, überwinterten sie jedes Jahr im Keller. Sie wurden viele Jahre alt.

      Ich freute mich immer, wenn Großmutter oder Onkel Kurt zu Besuch kamen. Sie waren anders als meine Eltern, waren offener und hatten ein besseres Auftreten. Onkel Kurt lief nicht wie Vater grußlos an den Menschen vorbei, sondern kam mit dem einen oder anderen schnell ins Gespräch. Onkel Kurt hatte ein offenes Gesicht, oft mit einem Lächeln. Er gehörte, solange ich mich an ihn erinnern kann, nicht zu den schlanksten Menschen. Mit ihrer Haltung anderen Menschen gegenüber zeigten mir Onkel Kurt und Großmutter den Unterschied zu meinem Vater. Während sie bei uns waren, wurde normal gesprochen und gelacht. Es gab kein Gebrüll und keine Beleidigungen. Es kamen bessere Lebensmittel ins Haus: Kalbfleisch oder Steak, guter Käse oder Säfte. Keiner wollte ständig Zwetschgensaft aus dem eigenen Garten. Sie hatten Rotbäckchen-Saft mitgebracht, damit der Junge gesund blieb. Wir gingen zusammen zum Bäcker und kauften Brötchen oder Brot, das mir besonders gut schmeckte. Ich ging gerne mit in den Laden in der Hoffnung, dass auch etwas für mich heraussprang. Und meistens behielt ich recht. Wenn Großmutter kochte, schmeckte es nicht nur anders, sondern wirklich gut. Sie benutzte Kräuter und Sahne, was Fremdwörter in unserem Haushalt waren. Bevor sie ging, steckte sie mir immer eine Mark zu, damals viel Geld für mich. Mutter stopfte sie gleich ins Sparschwein. In Großmutters Gegenwart fühlte ich mich frei und musste nicht ständig Angst haben, gemaßregelt zu werden. Onkel Kurt stellte mir Fragen und zeigte mir damit, dass er mich ernst nahm. Er erzählte viel und konnte gut mit Fremden umgehen. Er sprach sie an, wenn er etwas wissen wollte. Vater wollte sich wichtigmachen, Onkel Kurt wollte lernen. Wenn Vater jemanden ansprach, kam in mir ein Gefühl von Peinlichkeit auf. Doch wenn Onkel Kurt so etwas tat, war ich richtig stolz.

      „Nimm gefälligst ein Buch vor den Kopf“, sagte Vater energisch, wenn ich an einem verregneten Sonntag wieder einmal nur aus dem Fenster schaute oder mich sonst sichtlich langweilte. Um nicht weiteren Zorn auf mich zu ziehen, nahm ich ein Schulbuch und blickte ohne großes Interesse hinein. Meine Gedanken waren ganz weit weg. Eines Tages hatte meine Mutter ein Buch aus der Stadt mitgebracht. Es könnte „Robinson Crusoe“ gewesen sein, denn dies ist eines der ältesten Bücher, die sich immer noch in meiner Bücherkiste befinden. Die Langeweile brachte mich dazu, das Buch in die Hand zu nehmen. Ich legte mich aufs Sofa und begann zu lesen. Die Geschichte von Robinson Crusoe war dann spannend, so spannend, dass ich gleich neue Bücher haben wollte. Brunhilde, meine Nachbarin aus der Mädchenklasse, nahm mich mit in die Bücherei und half mir, einen Leihausweis zu bekommen. Als ich noch unschlüssig war, wo ich suchen sollte, zeigte mir die freundliche Bibliothekarin die für mich geeigneten Bücher. Wenn ich in einer falschen Reihe suchte, wurde ich sofort mit dem Kommentar weitergeleitet: „Die sind noch nichts für dich.“ Diese Bücher machten mich neugierig. Heimlich nahm ich doch das eine oder andere Buch und versteckte mich in der Leseecke. Sie waren aber wirklich noch nichts für mich. Die langweiligen Sätze zwangen mich schnell, diese Bücher wieder zurück an ihren Platz zu stellen. Ich kam von jetzt an immer wieder mit einem Stapel neuer Bücher nach Hause. Ich wünschte mir viele verregnete Sonntage. Doch wenn man sie braucht, kommen sie nicht. Nichtsdestotrotz eroberte ich mir von nun an meine Lesezeit im Garten oder auf Ausflügen.

      Nach Robinson Crusoe kamen die Schatzinsel, Klaus Störtebeker und selbstverständlich Karl May. Es waren Abenteuerromane, die mich interessierten. Während noch bei Robinson Crusoe die Handlung für mich im Vordergrund stand, identifizierte ich mich bei Karl-May mit den Helden. Aber irgendwann wurden Winnetou und Old Shatterhand langweilig und ich fand die orientalischen Geschichten um den Verbrecher Schut bald spannender.

      Danach kamen Bücher, die mich noch mehr fesselten: die Entdeckung des Innersten der Kontinente Afrika und Amerika. Der Blaue und der Weiße Nil, der Amazonas und der Orinoco. Die Beschreibungen der Entdeckungsreisen und die Abenteuer von David Livingstone und anderen. Ich war fasziniert. Diese Reisen lagen mehr als hundert Jahre zurück, und die meisten Orte auf der Welt waren jetzt bekannt. Ich aber wollte viele dieser Länder sehen. Ich wollte reisen. Das war schon damals mein Entschluss. Mutter bekam mich nicht mehr vom Sofa.

      Vater und die Medizin

      Die Gesundheit von Sohn Uwe war Vaters höchstes Gut. Er war bedacht darauf, dass der Sohn gesund war. Ich hatte alle Kinderkrankheiten, die im Lehrbuch standen, leider auch mehrmals jährlich Mittelohrentzündungen. Da Vater immer Schuldige für Missstände aller Art suchte, war meine Mutter schuld an jeder Krankheit, die ich bekam. Bei jedem Wehwehchen meinerseits jagte er uns zum Doktor oder sogar bis zum Professor, als ich einmal Spannungsschmerzen in der Brust hatte. Ich könnte Plattfüße haben, und so bestimmte mein Vater, ich solle orthopädische Übungen mit dem Bleistift machen. Zähneknirschend packte ich den Bleistift mit den Zehen, legte ihn nach links und rechts, bis er der Meinung war, dass die heutige Übungsstunde beendet werden konnte. Ich kannte bald mehr Ärzte als Einkaufsläden. Hunderte von Stunden muss ich mit meiner Mutter in Arztpraxen und Kliniken verbracht haben. Was genau gesucht wurde, ist mir noch heute schleierhaft. Außer meinen normalen Erkältungen, einer Mandelentfernung