Suman Lederer

FREUNDE, DIE KEINE SIND


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Bedeutung von Disziplin in jedem Lebensbereich beigebracht. Nach einer Abweichung zwischendurch im Leben kehrte sie wieder zurück zum Ursprung, zu ihrem erlernten disziplinierten Leben. Ihre Mutter hatte sie nie davon abgehalten, das zu tun, wonach ihr war, ob Tischtennis oder Badminton spielen, joggen gehen, malen, einen Tanzkurs besuchen, zur Nachhilfe gehen – Suwarna war es freigestellt, sich zu überlegen, was ihr gefiel und es mit ihr zu besprechen, und anschließend durfte sie daran teilnehmen. Ihrer Mutter war es sehr wichtig, dass Suwarna ein abgeschlossenes Studium und einen Job haben und finanziell unabhängig sein sollte.

      Gearbeitet hatte sie in der Privatwirtschaft bei internationalen Großkonzernen sowie als Dozentin an Fachhochschulen. Sie hatte zwischendurch einmal sogar die Gelegenheit bekommen, bei den Vereinten Nationen zu arbeiten. Bereits mehrere Jahre war sie freiberuflich für einen internationalen Großkonzern tätig, seit einigen wenigen Jahren von Jakarta aus. Sie arbeitete von zu Hause. Eigentlich konnte sie von überall arbeiten, ob Strand, Café, Bahnhof, Flughafen, Flieger, was sie manchmal auch tat.

      Suwarna wusste alles, was sie tat, zu genießen, wenn sie im Urlaub war, genoss sie den Urlaub in vollsten Zügen, wenn sie bei der Arbeit war, genoss sie das Arbeitsleben, wenn sie mit Freunden war, genoss sie ihre Zeit mit ihnen voll und ganz, beim Faulenzen genoss sie das Faulenzen, denn das durfte auch nicht zu kurz kommen. So war sie, Suwarna.

      Sie sprach immer ziemlich leise und erhob ihre Stimme kaum. Es kam in ihrem Leben natürlich zwei- oder dreimal vor, dass sie ihre Stimme erhob, aber da mussten sich die Leute sehr angestrengt haben, um diese Reaktion von ihr hervorzurufen. Sie war stets freundlich und höflich zu allen Menschen, unabhängig von ihrem sozialen oder wirtschaftlichen oder hierarchischen Status.

      Sie war fleißig, sehr organisiert – es schien fast so, als ob sie mit dem Talent zu hervorragendem Zeitmanagement auf die Welt gekommen wäre, sehr strukturiert in ihrem Denken, manchmal diplomatisch und manchmal sehr direkt, hilfsbereit – jeder könnte auf seine Art und Weise helfen, ihre Hilfsbereitschaft bezog sich oft auf zuhören und Ratschläge geben, sie hörte allen und allem gern zu, gab gute Ratschläge, wenn sie gefragt wurde.

      Sie war sehr wissbegierig, las Bücher aus verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen, hatte jedoch kein bestimmtes Hobby, trieb nur manchmal Sport, reiste unheimlich gern in andere Länder – wer nicht –, traf sich gern mit Leuten, redete sehr gern am Telefon mit ihren Freunden von überall aus der Welt – das war früher mal –, sie war insgesamt ein fröhlicher Mensch.

      Ihre Deutschkenntnisse waren ausgezeichnet, am Telefon hielten die meisten Suwarna für eine Muttersprachlerin und waren dann beim ersten Treffen überrascht sie zu sehen. Nach ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland hatte sie einen teilweise etwas härteren Unterton entwickelt, der aber nicht immer und nicht allen negativ oder überhaupt auffiel.

      Genau aufgrund dieser Charakterzüge und Fähigkeiten – hinzu kam noch die Erwartungshaltung der Leute ihr gegenüber – hatte sie manchmal ungewollt Schwierigkeiten mit Menschen, nicht mit allen, nicht mit dem Großteil, aber schon noch hier und dort.

      Wenn man sie sah, hatte man automatisch und ohne groß darüber nachzudenken bestimmte Erwartungen – das Schubladendenken, dem man oft automatisch nachgeht – aber ihr Verhalten entsprach ganz und gar nicht diesem Bild, das man sah. Man sah eine kleine Inderin mit weichen Zügen, dunklen Augen, dunkler Haut und dunklen Haaren. Wenn sie aber anfing zu reden, hörte man fast eine Deutsche sprechen – ihr Deutsch hatte sich später an das österreichische Deutsch angepasst. Das Bild passte nicht, obendrauf dieser harte Unterton, diese Forderungen, die sie stellte, die Lösungsansätze, die sie teilweise sofort wusste und anbot, diese strukturierte Vorgehensweise, das passte alles nicht zu dem Bild. Manche Menschen hatten so ihre Schwierigkeiten damit. Manche konnten ihr Verhalten nicht zuordnen, waren verwirrt, in den seltenen Fällen sogar aggressiv ihr gegenüber, ohne genau deuten zu können, warum.

      Suwarna wusste das, Max wusste das auch, aber sie konnten diese Erwartungshaltung der anderen ihr gegenüber nie ändern. Zum Glück kam das nicht oft vor. Leider hatten sie es nicht vorhergesehen, und nicht vorhersehen können, dass das Ausmaß sehr groß sein würde, als das kam, was dann kam. Diese Erwartungshaltung ihr gegenüber war mitunter ein großer Grund ihrer Schwierigkeiten mit der Frauengruppe aus dem Netzwerk.

       2.

       Deutschland, Indien

       60er, 70er

      Die Ehe ihrer Eltern war insofern ungewöhnlich, als beide aus ganz unterschiedlichen Teilen Indiens stammten sowie unterschiedlichen Religionen angehörten, zu dem Zeitpunkt ihrer Eheschließung eine sehr ungewöhnliche Verbindung – ihr Vater ein Hindu-Jain aus dem Bundesstaat Bihar im Norden Indiens, ihre Mutter eine Katholikin aus Kerala im Süden Indiens.

      Die Jains gehörten der alten Religion Jainismus an, die an das Universum, Gewaltlosigkeit und Verzicht glaubte. Die Jains glaubten, dass alle Lebewesen eine Seele hätten, einschließlich Pflanzen und Insekten. Man würde das Bild der Jains kennen, auf dem sie dabei zu sehen waren, wie sie Ameisen von der Straße wegfegten, bevor sie weitergingen, damit sie sie beim Gehen nicht töteten. Die Jains waren in der Regel strikte Vegetarier. Aus dem Grund war Suwarna seit ihrer Geburt als Vegetarierin aufgezogen worden. Viel später im Leben hatte sie doch noch Fleisch probiert, aber es schmeckte ihr nicht, da es für sie ungewohnt war. Ihre Mutter war keine Vegetarierin gewesen, aber nach der Heirat mit Suren war sie Vegetarierin geworden, da es ihm und seiner Familie sehr wichtig war.

      Ihr Vater, Suren, stammte aus der Kleinstadt Arrah im Norden Indiens. Aufgewachsen mit zwei Schwestern hatte er Atomphysik studiert. Das staatliche renommierte Kernforschungszentrum, das damals acht Zentren in Indien hatte, hatte an seiner Universität eine Atomphysikerstelle ausgeschrieben. Suren bewarb sich, bekam die Stelle und zog nach Mumbai, um dort zu leben und zu arbeiten. Einige Zeit später sprach ihn sein Chef an, ob er nicht für zwei Jahre nach Deutschland gehen wollte, um an einem internationalen Forschungs-Austauschprogramm teilzunehmen. So kam er nach Karlsruhe in Deutschland.

      Ihre Mutter, Madita, stammte aus einem kleinen Dorf in Kerala. Die meisten Leute dort verdienten ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei. Eines Tages fragte der Priester aus ihrer Kirche ihren Vater, ob nicht eine seiner Töchter Krankenschwester werden wolle, um im Ausland zu arbeiten und kranken Menschen zu helfen. Nachdem ihre Eltern insgesamt acht lebende Kinder hatten, fiel die Wahl auf sie, mit ihren 17 Jahren noch jung, dennoch alt genug, um einen Beruf zu erlernen und Menschen zu helfen. In einer Gruppe von insgesamt 20 Mädchen kam sie nach Karlsruhe in Deutschland, um den Krankenschwesterberuf zu erlernen, anschließend im Krankenhaus zu arbeiten und Menschen zu helfen.

      Im Oktober hatte die Deutsch-Indische Gesellschaft in Karlsruhe zum Diwali-Fest eingeladen.

      Diwali, das Lichterfest, das größte Fest Indiens, feierte jedes Jahr die Rückkehr von Kronprinz Rama nach 14 Jahren im Exil. Es wurde überall in Indien gefeiert, mit einem Riesenfeuerwerk.

      Die Inder im Ausland ließen es sich ebenfalls nicht nehmen, Diwali zu feiern. Die hübschen jungen Mädchen aus Kerala waren sehr glücklich, andere Leute aus Indien kennenzulernen. Zwar konnten sie kein Hindi und würden sich dort mit niemandem unterhalten können, aber das war ihnen egal, sie wollten andere Leute aus Indien treffen und Diwali feiern.

      Und dort war es, dass sich die zwei kennengelernt hatten. Es folgten danach mehrere Treffen in der Stadt zum Spazieren und Sightseeing. Sprachlich konnten sie sich nicht verständigen, außer mit Händen und Füßen, aber in Sachen Liebe war das manchmal auch nicht notwendig. In Bihar, wo Suren herkam, wurden Hindi und Bhojpuri gesprochen, in Kerala, wo Madita herkam, Malayalam. Indien hatte bekanntlich 22 Sprachen, die alle sehr unterschiedlich, mit eigenen Buchstaben, eigener Schrift und eigener Grammatik, waren.

      Als es Zeit für Suren war, nach Indien zurückzukehren, entschied sich Madita, ebenfalls zurück nach Indien zu gehen, beide wollten heiraten. Es folgte Widerstand von beiden Familien, Diskussionen und Streit innerhalb der jeweiligen Familien, denn die Sprache, die Traditionen, das Essen, einfach alles war unterschiedlich. Dennoch kamen beide zusammen und haben geheiratet. Die Liebe hatte gesiegt! Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen, Sandip, und ein Mädchen, Suwarna.