Suman Lederer

FREUNDE, DIE KEINE SIND


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Juli 2019

      Suwarna war beruflich in Indien, in der Hauptstadt Neu-Delhi. Eine Woche Arbeit in Neu-Delhi, danach knapp eine Woche Mumbai und dann zurück nach Jakarta, das war ihr Reiseplan. Die ganze Woche hatte sie Besprechungen, von morgens bis abends. Mehrere Leute hatte sie getroffen, die in ihrer Reiseplanung vorgegeben worden waren. Sie musste sich bei jedem Meeting konzentrieren, denn später sollte sie den Inhalt in ihrem Bericht einbinden. Trotz des anstrengenden Tages, um nichts Wichtiges zu übersehen, und um den Inhalt, den sie am Tag erhalten hatte, gleich einzuarbeiten, arbeitete sie am Abend in der Regel mindestens ein bis zwei Stunden im Hotelzimmer an ihrem Bericht weiter. Schlafen konnte sie danach normalerweise gut. Nicht aber an dem Abend.

      Sie war am Montag angereist, am Dienstag eine Woche später sollte sie nach Mumbai weiterfliegen. Es lag ein Wochenende dazwischen, das sie in Neu-Delhi verbringen würde. Am Freitag überlegte sie sich, wie sie ihr Wochenende dort verbringen sollte, hmwas sollte sie unternehmen? Na ja, spät aufstehen, ganz langsam frühstücken und zwei bis drei Tassen des indischen Masala Chai – der indische Tee mit Milch und Gewürzen – trinken, an der Präsentation arbeiten, die am Montag vorzustellen war, Mittagessen, wieder Arbeit, danach als Belohnung in das im Hotel befindliche Spa, das heißt zur Massage, gehen, die linke Seite des Nackens tat wieder so weh, Abendessen, vielleicht ja, vielleicht nein, nach Hause telefonieren und danach schlafen, überlegte sie sich; am Sonntag den gleichen Ablauf noch einmal durchziehen, das war der Plan für das Wochenende. Bis sie Prabhakar anrief.

      Sie sprachen wie immer ein bisschen über die Arbeit, dann über ihre jeweiligen Kinder, wann sie den nächsten Urlaub planten, ob kurz oder normal lang, wann ein Wochenendurlaub möglich wäre, was sie am Wochenende so vorhatten. Suwarna erzählte ihm, dass sie in Neu-Delhi war, wegen der Arbeit, und dass sie sich überlegt hatte, es am Wochenende langsam angehen zu lassen, ein bisschen Arbeit, ein bisschen Entspannung, und hoffentlich nur ein bisschen essen.

      Da fragte er plötzlich, „Warum triffst du dich nicht mit dem Harshwardhan? Er wohnt doch mit seiner Familie in Neu-Delhi. Es wäre super, wenn du ihn und seine Familie besuchen könntest.“

      Daran hatte Suwarna gar nicht gedacht. Sie hatte vor Monaten mit Harsh geschrieben, und er hatte ihr erzählt, dass er und seine Familie nach Neu-Delhi gezogen waren und dort wohnten. Stimmt, das könnte sie schon machen, aber was sollte sie sich mit ihnen unterhalten, sie hatte ihn seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen, sie hatten selten miteinander geschrieben, obwohl es seit den sozialen Netzwerken nicht mehr so schwer war, sie kannte seine Frau und seine zwei Kinder nicht. Auf der anderen Seite hatte sie nichts anderes vor. Na ja, sie könnte ihm schreiben, dass sie in der Stadt war und Zeit hatte. Wenn es mit einem Treffen klappte, okay, ansonsten hatte sie ohnehin einen entspannten Tag geplant. Also schrieb sie ihm. Wie es der Zufall wollte, hatte er am Samstag ab Mittag Zeit,

      „Wir würden uns sehr freuen, Dich bei uns zu begrüßen. Wer hätte das gedacht, dass wir uns in Neu-Delhi bei mir treffen würden! Ich komme morgen mit den Kindern und hole Dich gegen Mittag ab, halte Dich bereit.“

      Es war alles erstaunlicherweise locker und nett, seine Frau, Mandira, war sehr sympathisch, locker und gesprächig, seine Kinder, vierzehn und zwölf, am Anfang noch ein wenig zurückhaltend, aber mit jeder Minute, die Suwarna dort verbrachte, immer gesprächiger. Als sein Sohn sie allein im Wohnzimmer für einige Minuten erwischte, wollte er von ihr wissen, ob sein Vater, also Harsh, früher an der Uni eine Freundin hätte, und ob er irgendetwas angestellt hätte. Sie fand das alles sehr sympathisch, sie mochte seine Familie und dachte sofort daran, wie schön es wäre, mit Max und Mausi einmal im Urlaub nach Neu-Delhi zu kommen und sich noch mal mit ihnen allen zu treffen, damit Mausi die zwei Kinder von Harsh kennenlernen könnte. So war Suwarna; sie mochte die Leute immer sofort und dachte gleich daran, wie man mit ihnen weiterhin in Verbindung bleiben und die Freundschaft noch vertiefen könnte.

      Am Abend gingen Harsh, Mandira und Suwarna dann in ein In-Lokal. Die Temperatur draußen war angenehm. Sie entschieden sich auf der Dachterrasse zu bleiben. Nach zwei Cocktails, die nicht allzu stark waren, wurde die Stimmung etwas lustiger. Mandira und Suwarna taten sich zusammen und zogen über Harsh her, über Kleinigkeiten – wie er keinen Parkplatz fand, wie er versuchte cool auszusehen, wenn andere Frauen in der Nähe waren, was Suwarna alles von früher aus dem Nähkästchen erzählen könnte, aber nicht würde – und beide lachten und lachten und lachten über ihre eigenen Witze.

      Harsh sagte zu Mandira, sie sollte mit dem Trinken etwas aufpassen; daraufhin sagte Mandira:

      „Es ist alles in Ordnung, schau, ich habe noch nichts verraten“.

      Suwarna war gerade auf dem Weg zurück vom Klo, als sie das hörte.

      Harsh sagte noch: „Ja, wir alle wissen alles, wir wissen von der Adoption, von der Geschichte mit den Mietern, von ihren Beziehungsgeschichten, von der Ehekrise, aber sie weiß nicht, dass wir es wissen, und wir belassen es dabei, das hat doch keinen Sinn, jetzt alles aufzubringen, wir haben eine schöne Zeit und das passt so, pass nur auf! “

      Dann kam Suwarna am Tisch an. Sie sagte nichts, denn sie dachte in dem Moment, wenn sie es erzählen wollten, hätten sie es selbst schon erzählt, warum sollte sie sie mit Fragen in Verlegenheit bringen, es war so ein schöner Abend, also ließ sie alles andere.

      „Mandira und ich sind gerade mit ihr im Restaurant; ja, sie hat schon was getrunken, aber Mandira auch“, schrieb Harsh.

      „Für uns ist interessant, dass Suwarna getrunken hat.“

      „Es ist Samstagabend, wir sehen uns nach zweiundzwanzig Jahren, und beide Frauen genießen einfach nur den Abend, es ist nichts dabei.“

      „Du brauchst sie nicht in Schutz nehmen. Wir haben euch allen erzählt, wie die Sachen stehen. Beobachte weiter, mach Fotos, und sag uns Bescheid“, schrieb Deborah zurück.

      Sie beide brachten Suwarna ins Hotel zurück. Auf dem Weg dorthin kicherten Mandira und Suwarna wie Schulmädchen, lachten über alles und nichts, es war lustig. Als sie das Hotel erreichten, sagten Mandira und Harsh, wenn es zeitlich klappte, könnten sie am nächsten Abend wieder zusammen essen gehen.

      „Ja, das wäre super“, antwortete Suwarna sofort und freute sich gleich darüber.

      Es war bereits nach Mitternacht. Sie fragte am Hotelempfang, wie lange es am Vormittag noch Frühstück geben würde, da sie vorhatte, bis zur letztmöglichen Minute zu schlafen, ohne die Frühstückszeit zu verpassen. Okay, es wäre genug Zeit zum Schlafen.

      Als sie dann im Bett lag, schrieb sie Max eine Nachricht,

      „Bin wieder zurück im Hotel. Es war ein sehr schöner Tag mit der ganzen Familie und ein sehr schöner Abend mit den beiden. Wir können morgen telefonieren, ups, ich meine, heute, in ein paar Stunden. Es ist ein bisschen spät, ich gehe jetzt schlafen. Vorhin war es echt lustig. Schlaf gut. Gute Nacht.“

      Dann rief sie Prabhakar in den USA an, er war kurz angebunden und sagte nur, dass er unterwegs war und nicht reden konnte. Also schickte sie ihm einfach ein paar Bilder vom Abend.

      Er schrieb zurück: „Nett!“

      Hä? dachte sie, nur nett? Der muss ja einen Tag gehabt haben! Aber dann fiel ihr wieder ein, dass er unterwegs war, wahrscheinlich deswegen. Sie konnte nicht wissen, dass das ihr vorletzter Austausch war, und dass der letzte Austausch zwei Monate später genauso knapp ablaufen würde.

      Das Netzwerk und die Frauengruppe hatte ihn schon längst erreicht, und seine Verbindung mit Suwarna bereits erfolgreich verzerrt. Später würde sie sich wundern, wie er es zuließ, sechsundzwanzigsJahre Freundschaft, nein, Bekanntschaft, zugegeben mit einer großen Lücke von neunzehn Jahren, aber dennoch mit regelmäßigem Kontakt wieder seit drei Jahren, auszutauschen, gegen manipulierte Geschichten und das Netzwerken mit unbekannten Leuten, die man über die sozialen Netzwerke erst seit einigen wenigen Monaten kannte. Und das, nachdem er ihr gesagt hatte, dass er froh war, mit ihr nach neunzehn Jahren wieder in Kontakt zu sein, und dass er die Freundschaft mit ihr auf keinen Fall verlieren wollte. Tja! Das hätte sie alles wirklich nicht wissen oder sich vorstellen können.

      Am