die letzten Ferien in Deutschland waren hervorragend gewesen, und sie hätte nichts dagegen gehabt, noch einmal hinzufliegen.
„Zum Studieren“, sagte ihre Mutter.
„Hä? Was meinst du, zum Studieren? Ich studiere doch bereits. Soll ich danach noch mal in Deutschland studieren?“ Suwarna war verwirrt.
„Jetzt. Ich meine, nachdem wir für dich ein Visum haben. Das dauert ein paar Monate. Du bist jetzt neunzehn, erst mal kannst du hier die Sprache lernen, anschließend studieren. Natürlich zählen die Prüfungen nicht, die du an der Uni bereits abgeschlossen hast. Überleg’s dir. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Du kannst mich in den nächsten Tagen anrufen und mir sagen, was du möchtest.“
Sie verabschiedeten sich und legten auf.
Boom! Suwarna war verwirrt. Was war denn das bitte! Deutschland? Sie hatte schon gewusst, sprich gedacht, dass sie nach ihrem Studium nicht wie alle anderen in die USA, sondern nach Deutschland gehen würde, denn ihre Mutter war dort, aber halt erst nach dem Studium. Aber jetzt schon? In ein paar Monaten wäre das zweite Jahr ihres vierjährigen Studiums fertig gewesen. Ihr Studium jetzt abbrechen? Ihre Freunde, ihr Freund, die Stadt Bengaluru, das Essen – als Vegetarierin hatte sie es das letzte Mal vor drei Jahren in Deutschland nicht leicht gehabt, als sie in ihren Sommerferien für zwei Monate dort gewesen war, teilweise hatte sie nur Pommes frites gegessen, sogar der Salat wurde mit Schinkenstreifen serviert! Ihr ganzes Leben würde sich ändern!
Auf der anderen Seite … Warum nicht? Wer wusste, was in zwei bis drei Jahren sein würde? Diese Zeit, das eine Jahr, beziehungsweise die eineinhalb Jahre würde ich schon irgendwie wieder einholen können, dachte sie. Sie war doch intelligent, sie war enthusiastisch, sie wollte etwas machen, sie wollte arbeiten, in der Gesellschaft ihren Beitrag leisten, das musste doch möglich sein, selbst wenn sie anderthalb Jahre später als geplant fertig würde, wenn sie nach Deutschland ginge. Ein Neuanfang! Hm, kein schlechter Gedanke! Warum also nicht?
Am nächsten Tag rief Suwarna ihre Mutter an.
„Ja Mama, ich komme. Du kannst bitte alles einleiten. Ich möchte nur eines wissen, mit wie viel Wartezeit muss ich rechnen, und was soll ich alles vorher noch vorbereiten? Ich komme.“
Sie strahlte und lachte und lachte und lachte am Telefon. Ihre Mutter freute sich. Das hatte sie sich erhofft. Manchmal traf sie bewusst oder unbewusst die richtigen Entscheidungen und wusste Suwarna richtig anzuleiten. Manchmal auch nicht. Diesmal lag sie richtig!
An der Uni erzählte Suwarna ihren Freunden von dem Gespräch mit ihrer Mutter. Erst mal Stille! Dann fingen plötzlich alle an, dieselben Sachen zu sagen und fragen, die Suwarna bereits durchgegangen war: Was war mit dem Studium, nur noch ein bisschen und dann wäre sie fertig und würde dann einen Abschluss haben, was war mit ihnen allen, sie würde sie verlassen und gehen, was war mit ihrem eigenen Leben, welche Sprache sprach man in Deutschland, wie wollte sie dort mit den Leuten reden, kannte sie dort jemanden, was würde sie dort studieren, wann käme sie sie besuchen, das nächste Jahr oder später, konnte sie sie früher und regelmäßig besuchen kommen, wenn sie dort Freunde hätte, würde sie sie vergessen, und so ging die Mittagspause und die ganze Zeit nach der Uni vorbei, Suwarna und ihre Freunde, wie würde sie ohne sie leben können?
Suwarna empfand, dass die nächsten vier Monate wie im Flug vergingen. Sie wusste, Zeit lief nie schneller oder langsamer, Zeit verlief immer mit derselben Geschwindigkeit, dennoch hatte sie das Gefühl, dass die Zeit schneller gelaufen war. Ihre Freunde erkundigten sich jeden Tag bei ihr, ob es etwas Neues gab. Ihre Mutter hatte zwischendurch einige Male angerufen, das eine Mal hat sie berichtet, dass sie alle notwendigen Unterlagen sammelte, sie hatte bereits ein Vorgespräch bei der Ausländerbehörde, um noch einmal den angeforderten Papierkram durchzugehen, damit sie alles und alles Richtige zusammenstellte, sie hatte ihren Arbeitgeber um entsprechende Arbeitsbestätigungen gebeten und diese erhalten, anschließend reichte sie alle Unterlagen bei der Ausländerbehörde ein. Sie berichtete, dass die Ausländerbehörde vier bis acht Wochen für die Bearbeitung brauchen würde.
Parallel dazu ging Suwarna in das indische Goethe-Institut, das Max-Mueller-Bhavan, um sich nach Deutschkursen zu erkundigen. Es gab einen zehnwöchigen Intensivkurs für die Grundstufe, Montag bis Freitag, jeden Vormittag für drei Stunden. Der Grundkurs war wiederum aufgeteilt in drei Stufen; sie konnte nicht ein einziges Wort Deutsch, so kam sie in die erste Stufe des Grundkurses, G-I. Damals waren die Deutschkurse in die Grundstufe, mit drei Stufen innerhalb der Grundstufe, die Mittelstufe, mit drei Stufen innerhalb der Mittelstufe, und die Oberstufe, mit zwei Kursen innerhalb der Oberstufe, aufgeteilt, bis das System in das einheitliche europäische System mit insgesamt drei Stufen, A (I und II), B (I und II) und C (I und II), geändert wurde.
Mitte Mai begann der Kurs. Mit ihrem neuen Moped fuhr Suwarna strahlend zum Deutschkurs. Es waren elf weitere junge Menschen im Kurs, ein paar Jahre älter oder jünger als ihre neunzehneinhalb Jahre.
„Guten Morgen, ich heiße Aparna, wie heißen Sie?“, fing die Lehrerin an.
Nachdem sie es dreimal wiederholt hatte, verstanden die Leute, inklusive Suwarna, dass sie das wiederholen sollten. Also wiederholten alle, so gut wie es ging, den Satz. Die Lehrerin deutete an, dass die erste Reihe anfangen sollte und jeder ihn zu dem Nachbarn oder der Nachbarin sagen sollte. In der englischen Sprache gibt es den Unterschied zwischen Sie und Du nicht, aber in Hindi, der Landessprache Indiens, schon. Die Lehrerin erklärte den Unterschied und alle übten dann,
„Ich heiße Suwarna, wie heißt du?“, natürlich mit dem eigenen Namen.
Dann war es schon Zeit für die Frühstückspause. Die ganze Gruppe ging gemeinsam in das nahegelegene südindische Restaurant. Suwarnas Tante hatte ihr ein Frühstück mitgegeben, aber sie wollte die Zeit mit der Gruppe und der Lehrerin nicht verpassen, also ging sie ebenfalls mit. Alle bestellten ihr Frühstück, Idli1, Wada2 und Co. Nach der Bestellung sah sich Suwarna um, sie saßen alle draußen, im Schatten der Bäume, eine leichte Brise streichelte sanft ihr Gesicht, als ob sie ihr Mut machen und sagen wollte, es würde dir nur noch besser gehen, elf neue Leute, die alle miteinander plauderten, die sympathische junge Lehrerin, eine neue Sprache, neue Aussichten fürs Leben, und Suwarna mittendrin, mein neues Leben beginnt!
Fleißig machte sie am Nachmittag ihre Hausaufgaben, las ihrer Cousine laut Sachen vor, die sie am Vormittag im Unterricht gelernt hatte. Ihre Kusine verstand nichts, dennoch hörte sie aufmerksam zu und fragte:
„Verstehst du überhaupt, was du da sagst, oder sagst du einfach irgendwas, da ich eh nichts verstehe?“
Suwarna lachte laut: „Ich verstehe das natürlich, du Dummkopf, ich habe das heute früh im Kurs gelernt.“
Ihre Cousine war nicht überzeugt: „Jaja, mach dich nur lustig über mich, wenn du jetzt nicht ordentlich lernst, wirst du in Deutschland nichts verstehen, die Leute werden sich dann über dich lustig machen, wenn du nur dumm dastehst. Kannst du dich überhaupt mit Leuten unterhalten?“
Ach, sie hatte keine Ahnung, so schnell ging es doch nicht, Suwarna sagte nur:
„Lass mich in Ruhe, es wird schon alles gehen.“
So zogen sie übereinander her, bis ihre Tante ihre Cousine in die Küche rief. Suwarna hatte ihre Cousine sehr gern. Später würde ihre Zuneigung aber nicht vermeiden können, dass sich die Frauengruppe, über die Lehrerin, mit ihr in Verbindung setzte, und sie schnell hat überreden können, im Netzwerk mitzumachen, in der speziell für die Lehrer gegründeten Gruppe – an sich wahrscheinlich keine schlechte Idee, aber die Hinterhältigkeit und die Motivation der Frauengruppe, alle von Suwarna zu entfernen, machte alles aus. Den Grund hinter ihrer vertretenen Meinung, Suwarna sei selbst schuld, würde man natürlich nicht erfahren können, ob es der Gedanke war, selbst im Beruf weiterkommen zu können, oder ob sie auch der Meinung war, dass es Zeit war, dass es Suwarna endlich mal erwischte.
Sie übte Deutsch sehr fleißig jeden Tag, mündlich und schriftlich, aber alles in der Gegenwartsform, denn das war das, was man am Anfang in einem Sprachkurs lernte. Sie dachte sich nichts dabei, es kam ihr nicht komisch vor, das war das, was sie gelernt hatte, und